Meine Schleswiger Geschichten - Stefan Weinert (c)
Stefan Weinert
Meine Schleswiger Geschichten (c)
Es ist eigentlich kein Wunder, dass ich Schneegestöber, zugeschneite Landschaften und graue kalte Wintertage liebe. Denn schließlich erblickte ich zu genau solch gestalteter Stunde im Dezember 1951 das grelle Licht dieser Welt. Es war aber nicht der Schnee, der mich blendete, sondern es waren die Deckenlampen des kleinen Krankenhauses in meiner Geburtsstadt SCHLESWIG an der SCHLEI - zwischen Nord-Ostsee-Kanal, der zu dieser Zeit noch "Kaiser-Wilhelm-Kanal" hieß, und der dänischen Grenze. Dass dieses Licht bereits nach sechs Jahren nicht schon wieder für immer ausging - sondern nur für knapp eine Woche, das ist wohl auch als ein Wunder zu bezeichnen.
In SCHLESWIG lebte ich von 1951 bis 1976 - mit einem kleinen Abstecher zwischendurch nach Jübek 1974/75. Ich besuchte die Bugenhagenschule im Stadtteil "Friedrichsberg", die "Gallbergschule" im Stadtteil "Sankt Jürgen", die "Bruno-Lorenzen-Schule" und nach deren Abschluss mit Sonderrunde, die "Einjährige Höhere Handelsschule", welche damals in die Berufsschulen an der oberen "Flensburger Straße" integriert war. Dort lernte ich Stenographie, Schreibmaschine, Buchführung und Wirtschaftsenglisch und hörte zum ersten Mal die Worte "Bruttosozialprodukt" - "Vollbeschäftigung" und "konzertierte Aktion". Friedrich Schiller von der SPD war damals nämlich Finanzminister.
Ende 1976 zog ich um nach Flensburg, hatte aber durch meine wöchentlichen Termine beim "Luftschutz" (im Bunker unter dem alten "Martin-Luther-Krankenhaus") anstelle Wehrdienstes und Proben mit der Rockband immer noch feste Bezugspunkte in der Stadt an der Schlei. Bis ich dann 1980 - inzwischen verheiratet - im Oberbergischen Land meine Theologiestudium begann. Durch den anschließenden Beruf als Pastoralreferent, kamen meine Frau, unsere beiden inzwischen geborenen Söhne und ich, in Deutschland ziemlich weit rum. Letztlich landeten wir in der Spiele- und Puzzle-Stadt Ravensburg, nicht unweit vom Bodensee entfernt.
Und genau von dort, dem oberschwäbischen Winkel im Südwesten der Republik schreibe ich meine "Schleswiger Geschichten" auf. Begonnen habe ich damit bereits 2015 - also vor zehn Jahren, nachdem ich in Rente gegangen war. Doch irgendwie gingen diese Aufzeichnungen "verschütt", sind nun aber wieder aufgetaucht und werden von mir überarbeitet und ergänzt.
Apropos 2015. Seit diesem Jahr fuhr ich mehr oder weniger regelmäßig mit dem Zug die 922 Kilometer nach Schleswig, respektive nach Schleswig-Holstein, worüber ich auch im Folgenden berichte. Vor allem aber geht es in den "Schleswiger Geschichten" um meine Kindheit und frühe Jugend in der Schleistadt, die ich dort mit vier weiteren Geschwistern erlebte: zwei Brüder und zwei Schwestern, wobei die ältere von ihnen noch heute dort wohnt und in Schleswig ein alt eingesessenes Kaufhaus betreibt. Wir anderen sind verstreut in Göttingen, Hamburg, Schwarzwald und eben Ravensburg. Wobei es da noch eine Besonderheit gibt. Unsere jüngste Schwester wurde auf den Tag genau, an meinem 14. Geburtstag während der von meinem Vater für mich und meine fünf Freunde arrangierten Party geboren.
Die folgenden rund 30 Geschichten sind in ihrer Reihenfolge nicht unbedingt chronologisch, aber echt und auch so von mir erlebt. Nur bei den Namen von Beteiligten habe ich ein wenig - wegen des Datenschutzes - "geschummelt", oder nur die Vornamen verwendet.
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👉 Mit Vitamin „B“ zum Telefon (c)
Im Sommer 1961 – während mein älterer Bruder und ich mit der katholischen Jugendgruppe im Zeltlager bei Trittau im Sachsenwald waren – zog unsere Familie von der kleinen Gewoba-Wohnung im Schleswiger Stadtteil "Friedrichsberg" - Dannewerkredder, in das Häuschen im gegenüberliegenden Stadtteil "Sankt Jürgen" in den "Seekamp" um. Damals endete die Straße dort. Der bis heute neben dem Haus platzierte Kindergarten, wurde erst einige Jahre später gebaut. Ich kann mich gut daran erinnern, wie der damalige Bürgermeister meine Eltern besuchte, um ihnen die entsprechenden Pläne zu erklären und um ihre Zustimmung zu bitten. Das war echt fair!
Aus dem Fenster unserer neuen Heimat - nach Osten - gab es den freien Blick auf den nahe gelegenen legendären "Brautsee" - und im Herbst auf die Rauchschwaden der etwas weiter entfernten damals noch arbeitenden Zuckerfabrik. Sonst ringsherum nur Wiesen und mittendrin die gerade neu fertig gestellte "Sankt-Jürgen-Schule".
Weil wir als sechsköpfige Familie in recht bescheidenen Verhältnissen lebten, war unser Haus zwar das kleinste in der ganzen Strasse, aber es war ein eigenes Haus! Und im Gegensatz zu allen anderen, war es nicht teuer verklinkert, sondern "nur" verputzt und weiß gestrichen, was unsere Eltern selbst erledigten. Statt mit vier Kindern in einem Zimmer auf 12 qm zu schlafen wie zuvor, waren wir Kinder nun auf drei Zimmer verteilt.
Noch im Herbst des gleichen Jahres beantragten meine Eltern bei der Post ein Telefon. Normalerweise dauerte es damals Wochen, bis man/frau es dann auch erhielt. Nicht so bei uns. Schon drei Tage später kamen zwei Postmitarbeiter und gruben einen Kanal von der Hauswand zur Strasse hin - und am Abend stand in unserem Wohnzimmer ein hellgraues Telefon mit Wählscheibe. Doch nicht nur das. Die Post hatte uns eine fünfstellige Nummer, die aber aus nur zwei verschiedenen Ziffern bestand, zugeteilt. Noch heute, nach 64 Jahren, habe ich diese Nummer im Kopf: 25 222. Was war passiert?
Einer meiner Onkel, die Schwester meiner Mutter hatte ihn geheiratet, war in Süddeutschland (Freiburg) bei der Post beschäftigt. Er hatte es tatsächlich geschafft, bis ganz nach Oben zu kommen. Er wurde der Direktor der damals noch bestehenden Oberpostdirektion des Bundeslandes Baden-Württemberg, von wo aus ich jetzt diese Zeilen schreibe. Von der gelben Telefonzelle, die damals am Platz zwischen den beiden Hochhäusern und dem Supermarkt CO-OP und dem Schreibwarengeschäft "Plewe" im Sankt-Jürgen stand, hatte meine Mutter ihre Schwester in Süddeutschland angerufen und ihr Mann, eben mein Onkel, griff seinerseits zum Telefonhörer. Und das wars.
Aber keine Sorge: Wir hatten dadurch keine finanziellen Vorteile, keinen Sondertarif oder so – es ging halt schneller und wir hatten damals die wahrscheinlich auffälligste Telefonnummer in ganz Schleswig (-Holstein?). Und Flatrate, oder so was, gab es damals natürlich noch nicht. Deshalb: Fasse Dich kurz! Das Ortgespräch allerdings für nur 20 Pfennige.
👉Erstes Bier und erste Liebe – oder: „My first cup was a Holsten" (c)
Im Herbst 1960 feierten wir im Schleswiger Seekamp unser Richtfest. Die Zimmerleute standen auf dem Dach und neben ihnen hing das Schild mit der Aufschrift „Dipl. Ing. NN“. Jahrelang hatte ich gerätselt, was denn wohl „Dippeling“ zu bedeuten habe. Nach den Sprüchen der Zimmerleute und dem zertrümmerten Sektglas ging es zur Baubude, die auf dem brachliegenden Gelände neben der noch im Bau befindlichen Sankt-Jürgen-Schule stand. Vati hatte einige Kisten Hamburger "Holstenbier" gekauft (was anderes kannten wir kaum), die nun von den Zimmerleuten, Maurern, dem "Dippeling" und meinem Vater getrunken wurden. Die Kisten mit den leeren Flaschen wurden in eine Ecke gestellt. Ich war damals neun Jahre alt und hatte bisher zum Geburtstag nur Malzbier getrunken.
Da alle im lustigen Gespräch waren, nutzten mein Freund Thomas und ich die Gelegenheit und schauten uns jede "leere" Bierflasche genauer an. Und tatsächlich waren in einigen von ihnen noch ein oder gar zwei Schlucke Bier zurückgeblieben. So tranken wir also all die Reste und wurden immer übermütiger, sprangen herum und erzählten Unsinn. Die Eltern ließen es durchgehen.
Ungefähr zu dieser Zeit war es auch, als meine Schwester Martina eines Tages aus der Schule kam und berichtete, dass ein neues Mädchen in ihre Klasse gekommen sei. Und wie Martina die Neue so beschrieb und berichtete, dass sie auch katholisch sei, habe ich mich sofort in sie verliebt, ohne sie je gesehen zu haben. Als sie dann nach ein paar Tagen meine Schwester zum Spielen abholte, bestätigten sich meine Gefühle für dieses Mädchen. Sie war zehn Jahre und ich war inzwischen zwölf Jahre alt. Ich glaube, das Ganze ging so über zwei Sommer. Wir waren zusammen im Luisenbad und liefen gemeinsam nach Hause, entlang den Bahnschienen, die damals noch vom Kreisbahnhof Richtung Zuckerfabrik führten. Es waren überaus sonnenreiche und heiße Sommer und ich spüre heute noch dieses erwachende Gefühl.
In der Kirche saß dieses Mädchen mit ihren Eltern immer in der zweiten Bankreihe und manchmal drehte sie sich zu mir um, was mein Herz natürlich höherschlagen ließ. Einmal durfte ich sie sogar zu Hause auf ihrem Zimmer besuchen und es gab O-Saft und dänische Kekse. Aber nie habe ich mich getraut, mit ihr Händchen zu halten, sie zu berühren, oder gar zu küssen – auch nicht auf die Wange. Nie – leider, denn ich mochte sie sehr, sehr gerne. Aber ich war unglaublich schüchtern.
Ja, dieses Mädchen war meine erste Liebe. Viele Jahre später – es war so um 1973 herum und ich war inzwischen zu einem wilden und langhaarigen Hippie und Schlagzeuger einer Rockband "mutiert" – sah ich sie mit ihrem Ehemann genau dort, wo gegenüber dem alten Postgebäude der kleine Gang hinunter zur „Brücke“ (VHS) führte. Als ich diesen erwähnen Gang zur VHS dann damals weiter entlanglief, um zu meinem roten Opel Kadett Coupé, der dort geparkt war zu gelangen, kamen mir zwei Mädchen entgegen und ich hörte wie die eine zur anderen sagen: „Hast du Jesus schon einmal von so Nahem gesehen?“ Hahaha! - Obwohl: Nur sieben Jahre später - was aber zu diesem Zeitpunkt nicht geplant war, begann ich mein Theologiestudium 550 Kilometer südlich von Schleswig und statt "hahaha" ..., gehörte ich ab dann sozusagen zum Bodenpersonal dieses langhaarigen (Klischee) Predigers. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, auf die ich im vorliegenden Büchlein noch mindestens einmal zurückkomme.
👉Hundebiss und Hundeliebe (c)
Als wir im Sommer 1961 vom Friedrichsberg in den Sankt Jürgen umgezogen waren, endete - wie schon erwähnt - der Seekamp an unserem Haus. Erst Jahre später wurde die weiterführende Verbindung zur Strasse „Am Brautsee“ entlang des Schulgeländes der gerade fertig gestellten Sankt-Jürgen-Schule gebaut. Dort, wo dann beide Straßen aufeinanderstießen, stand damals eine Litfaßsäule, bei der ich zwölf Jahre später immer meine letzte Zigarette rauchte, bevor ich im Morgengrauen vom „Störtebeker“ (damals angesagte Disco in Schleswig) nach Hause kam. Bis dahin war das alles Brachland und es hatte sich hier eine riesige Pfütze gebildet. Sie war etwa 20 Meter lang und acht Meter breit. In der Mitte war sie knietief. Freund Thomas und ich hatten uns ein Floß aus Holzbalken gebaut - und bewaffnet mit langen Stangen schipperten wir auf dem Teich, unserem "Silbersee", herum.
Genau unserem Häuschen gegenüber, im Reiheneckhaus, wohnte Familie Stein, zu der zwei Mädchen gehörten. Das war schön. Schön war jedoch nicht, dass es da auch einen Hund gab, der zwar klein, aber ungemein aggressiv und von undefinierbarer Herkunft war. Dieser Hund hieß "Purzel" und war von uns Kindern ziemlich gefürchtet. Nun spielten Thomas und ich (wir waren zwölf Jahre alt) mal wieder an der besagten Riesenpfütze und waren im Begriff, von einem Ufer an das andere rüber zusetzen. Da kam eines der Steinmädchen mit Purzel an der Leine direkt an dem Floß vorüber. Wie immer zog Purzel heftig an der Leine, hechelte und fletschte mit den spitzen Zähnen.
Hatte ich „Frauchen“ falsch angeschaut? Hatte ich irgend etwas Falsches gesagt? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls biss mir der Köter in meinen linken Unterschenkel. Ich hatte hohe, grüne Gummistiefel an, darin meine lange Hose gestopft und – weil es schon Herbst war – hatte ich auch noch lange Strümpfe an. All das schützte mich aber nicht. Purzel biss sich bis auf meine Haut durch. Ich rannte sofort nach Hause, zog mir Gummistiefel, Hose und Strümpfe aus und musste gemeinsam mit Mutti feststellen, dass Purzels Hauer drei rotblaue Stellen auf meinem Unterschenkel hinterlassen hatten. Tetanusspritze? Nein. Strafanzeige? Nein. Gebranntes Kind und lebenslang Angst vor Hunden? Nein! Im Gegenteil. Ich war selbst viele Jahre später zweifacher Hundebesitzer (Schäferhundmischling in den 1990er Jahren, schwarze Labradorhündin in den 2000er Jahren) und einmal – es war Sylvester 1974 – habe ich sogar mit dem Bernhardiner meiner Vermieter in Jübek (bei Schleswig) auf dem Teppich herumgetollt, während der noch junge (und noch anständige :) "Otto" im Fernsehen herumblödelte. - Ach ja: Auch Hunde haben eine Seele!
👉Feuerteufel im Quartier (c)
Mein erstes Feuer machte ich mit fünf Jahren. Wir wohnten damals - wie schon erwähnt - mit sechs Personen auf knapp 40 Quadratmetern im Schleswiger Dannewerkredder. Mutti war in der Küche am Werkeln und ich hatte ihr Mal wieder eine Schachtel Streichhölzer geklaut. Im Kinderzimmer standen vier Betten, ein Schrank und ein kleiner Tisch, unter den ich die Halskette (mit großen Holzkugeln) meiner kleinen Schwester gelegt hatte. In diesen Kreis hatte ich zusammengeknüllte Seiten aus dem Schöpflin-Katalog ("Schöpflin" war neben "Quelle" ein bei uns beliebter Versand) gepackt und zündete nun dieses Papier an. Das Versandhaus Schöpflin aus Haagen wurde 1964 von Quelle übernommen, behielt aber noch lange seinen Namen.
Jedenfalls schlugen die ersten Flammen empor und ich warf die Streichholzschachtel mit den noch verbliebenen Zündhölzern ins Feuer. Es dauerte auch nicht lange, bis es eine Stichflamme gab und das Feuer bis hoch an die Tischplatte leckte. Gerade war ich schwer am überlegen, wie ich diese Krise bewältige, als meine Mutter die Kinderzimmertür aufriss und hineinstürmte. Sie muss es gespürt haben: Mutterinstinkt eben. Das Feuer wurde gelöscht und ich bekam eine heftige Ohrfeige. In der Folgezeit machte ich immer wieder hier und dort ein Feuer, so auch hinter den Garagen, die am Ende des Haithabuweges (ganz in der Nähe), wo dieser in den Haithaburing übergeht, standen. Direkt auf der Ecke dieser beiden Straßen wohnte damals übrigens „Schnucki“, dessen richtigen Vornamen niemand kannte. Es ging immer gut aus, obwohl das nicht selbstverständlich war. Vor allem in dem folgenden Fall.
Ein paar Jungs und ich hatten mal wieder irgendwo Streichhölzer her, und wir zogen durch die Schrebergärten Richtung der alten Ruine, die oberhalb der Kiesgrube stand. Links davon befand sich ein kleines Wäldchen und unterhalb dieses Wäldchens gab es die Kohlehandlung „Tröndle“ und das damals noch in Betrieb befindliche Tauwerk "Oellerking". Und ausgerechnet hier machten wir unser Feuer. Es waren die Sommerferien und es hatte seit Wochen nicht geregnet. Wir hatten ordentlich Holz aufgeschichtet, und als uns die Flammen entgegenschlugen, bekamen wir die Panik. Wir versuchten das Feuer auszutreten, gar auszupusten und spuckten in es hinein. Völlig kontraproduktiv und unsinnig. So ergriffen wir die Flucht, wohl wissend, dass es bei „Tröndle“ nicht nur Kohlen, sondern auch Kessel mit Öl gab.
Als wir bei den Garagen am Haithabuweg angekommen waren (damals gab es da eine kleine Wiese mit Stangen und Wäscheleinen), packte uns doch das schlechte Gewissen und wir kehrten zum Tatort um. Da kam uns einer von den Halbstarken entgegen und bedeutete uns, dass er unsere Aktion und Flucht von der Ruine her beobachtet und das Feuer dann gelöscht hatte. Wahrscheinlich auch so eine Art von Schutz-Engel. Mein letztes Feuer habe ich übrigens vor 14 Jahren gemacht. Es war eine Pfeife, die ich noch einmal entzündete. Ich hatte damit Anfang der 1990er Jahre nach 15 Jahren Abstinenz wieder angefangen.
👉Vom Schlammserkönig und dem Monopol (c)
Im letzten Haus des damaligen Thyrawegs, am äußersten Rand des Ortsteils "Friedrichsberg", auf der linken Seite, wohnte unser Schlammserkönig. Er besaß an die 3.000 Marmeln (Murmeln), die er sortiert nach Größe in Kisten im Keller aufbewahrte. Es gab Marmeln für 1/2 Pfennig, für 1 Pfennig, für 2 Pfennige und für 5 Pfennige und mehr. An den Vornamen dieses Jungen kann ich mich leider nicht mehr erinnern, aber er könnte Siggi geheißen haben. Nach Siggis Haus kamen damals nur noch Felder und Äcker. Das war Ende der 1950er Jahre. Abelsteg und Erikstrasse wurden erst ein paar Jahre später in Angriff genommen. Der Thyraweg endete dort, wo damals und wohl auch noch heute der Friedhof auf der anderen Seite endete. Meine Mutti hatte mir einen kleinen Beutel genäht, in dem ich meine Marmeln aufbewahrte. Ich war kein besonders guter Spieler und meist war mein kleiner Vorrat auf zehn Marmeln zusammengeschrumpft.
Die Straßen, Wege und Plätze waren damals alle noch nicht geteert, oder mit Pflastersteinen oder Betonplatten belegt. So konnten wir ohne Probleme hier und dort kleine Kuhlen graben und „schlammsen“. Dabei verlor ich dann meist gegen Wolfgang und seinen größeren Bruder Uwe, gegen Kurt, Peter, Wolfgang und seinen Bruder Bernd, wahrscheinlich auch gegen gegen Alfons, mit dem ich später noch eine andere Geschichte erlebte.
Murmeln (Marmeln) sind seit 3000 v. Chr. aus Babylonien, später dem Römischen Reich und Germanien bekannt. Dieses Wort leitet sich von "Mamor" ab, dem ursprünglichen Material, aus dem die Spielkugeln bestanden. Von Kaiser Augustus wird berichtet, dass er stets Murmeln bei sich trug und sich gern unter die spielenden Kinder mischte. Die 12-Jährige Anne Frank hatte kurz vor ihrem Sich-Verstecken ihre 161 Marmeln der Freundin übergeben. Diese Marmeln haben überlebt und wurden 2014 in Rotterdam ausgestellt. Die Produktion der modernen Glasmurmeln begann 1848 in Thüringen. Der Glasbläser Christoph Greiner hatte das Monopol auf die Herstellung dieser Glaskugeln, wobei sein Schwiegervater ihn auf diese Idee brachte. Ursprünglich wollte dieser nämlich kostengünstigere Glasaugen produzieren, wobei dann die Glasmurmeln herauskamen. Seit 1996 werden sogar Deutsche Meisterschaften im Murmeln ausgetragen. - - -
Nun bekam ich damals pro Woche 20 Pfennige Taschengeld. Zehn Pfennige gingen für Naschkram bei "Sauerbaum" oder dem kleinen Kiosk auf dem Weg in die "Bugenhagenschule", dort wo es zur Fritz-Reuter-Straße hinauf ging, drauf - und ab und zu kaufte ich bei Sauerbaums für 5 Pfennige eine Schachtel Streichhölzer, auf der das Wort „Monopol“ stand. Ich war als Kind nämlich ein „Feuerteufel“, worüber ich schon berichtete. Meine Eltern hatten mir erklärt, was ein „Monopol“ ist. Das Zündwarenmonopol lag seit 1930 bei der jeweiligen deutschen Regierung und wurde erst im Januar 1983 aufgehoben. Da nun die Marmeln nicht gerade billig waren, konnten man auch bei Siggi welche zu einem günstigeren Kurs erwerben. Es war in unserer Siedlung ein ungeschriebenes Gesetz, dass nur Siggi mit Marmeln handeln durfte. Also auch so eine Art Monopolist. Einmal war ich im doppelten Sinne „abgebrannt“: Marmeln = null; Moneten = 4 Pfennige. Als ich ehrfürchtig die Treppe in den Keller zu dem „Schlammserkönig“ herabstieg, hatte ich Herzklopfen. Siggi fragte mich, wie viel Geld ich denn dabeihätte. Und als ich die beiden Münzen aus der Hosentaschehervorgekramte, sagte er zu mir: „Weil du so gut Fußball spielst (Thyraweg und Dannewerkredder bildeten eine Mannschaft) und ich deinen großen Bruder Dalle kenne, bekommst du dafür fünf „Einser“ und zwei „Zweier“.
Damit hatte ich den Rest meines Taschengeldes mehr als verdoppelt und machte daraus durch ein paar glückliche Spiele Marmeln im Wert von fast einer Mark. Doch bald hatte ich wieder alles verspielt. Aber es waren ja nur Marmeln. 15 Jahre später saß ich sonntags nach dem Gottesdienst bzw. der Heiligen Messe beim Frühschoppen, gegenüber der katholischen Kirche im Lollfuss, in der Kneipe (heute ist das ein „Italiener“) und hockte da am Spielautomaten. Ich habe' es aber bald sein gelassen, denn ich erkannte, dass man(n) bei solchen Sachen immer der Verlierer ist. Jedenfalls hatte ich nie Glück im Spiel. Und in der Liebe? Das kommt später dran.
👉Mit den Autos durch die 1960er und 1970er Jahre – in Schleswig und durch die halbe Welt (c)
Das erste Auto, das mein Vater fuhr, war ein grauer VW-Käfer mit kleiner und geteilter Heckscheibe. Das war 1960. Wir wohnten da noch im Dannewerkredder. Sonntags im Sommer – nach dem Kirchbesuch in der Sankt Ansgarkirche im Lollfuss 61 – fuhren wir bei gutem Wetter damit nach Eckernförde zum Baden. Der Strand lag (und liegt auch heute noch) direkt an der Bundesstrasse. 1965 erwarb mein Vater bei Ford Timm im Friedrichsberg einen hochmodernen Ford Taunus 12 M. Als mein Vater mich einmal damit zur Bruno-Lorenzen-Schule brachte, staunten meine Schulkameraden nicht schlecht. Dabei war er eigentlich nur die kleine Ausgabe des Ford Taunus – es gab noch den 15 M und den 17 M, später sogar 20 M und 26 M. Das „M“ stand für „Meisterstück“.
Mein erstes Auto, das ich selbst fuhr, war ein Simca (Société Industrielle de Mécanique et Carosserie Automobile). Es gehörte aber nicht mir, sondern meinem Fahrschullehrer, Herrn M. Mit dem Simca, den es seit 1978 nicht mehr gibt, absolvierte ich meine 17 Fahrstunden und meine Prüfung. Die Fahrschule war auf der Ecke Schubystrasse./Feldstrasse (vorher in dem ehemaligen Pelzgeschäft auf der Ecke Lollfuss/Guttenbergstrasse) und mein Führerschein kostete mich 575 Mark. Das war 1971 und im selben Jahr kaufte ich mir einen gebrauchten roten Fiat 500 mit schwarzem Faltdach, Zwischengas, Anlasser, 13,5 PS, Baujahr 1959 und mit einer Höchstgeschwindigkeit von 85 Kmh. Nach drei Monaten brannte mir der Zylinderkopf durch und ich versuchte, das Loch immer wieder mit Asbestschnüren abzudichten. Das hielt meist aber nur einige Kilometer und dann hörte sich mein Fiat wie ein Panzer an. So erwarb ich im Frühjahr 1972 einen roten Opel Kadett Coupé mit dem ich im Spätsommer gemeinsam mit Freund Thomas zuerst nach München und dann weiter an den Achensee in Österreich fuhr. In den Kasseler Bergen fuhr ich den Kadett abwärts bis auf Anschlag: 160 Km/h, und aufwärts musste ich ihn bis in den 2.Gang zurückschalten.
In München sahen wir uns, wenige Tage vor Eröffnung der Olympischen Spiele, das entsprechende Gelände an und waren auch in der Schwimmhalle. Wenige Tage später kam es zu dem schlimmen Attentat auf die israelischen Sportler. Aber da waren wir schon in Austria. 1974 – als ich kurz mal in Jübek wohnte – fuhr ich für ein paar Monate einen grünen VW 1200 (Käfer). Damals erzählte man sich folgende Geschichte. Auf der B76 zwischen Flensburg und Schleswig, hatte ein VW-Käfer-Fahrer eine Panne und blieb rechts liegen. Wenig später hält hinter ihm ein Auto – ebenfalls ein VW-Käfer. „Was ist los?“, fragte der Helfer. „Oh,“ meinte der andere, „mein Auto ist einfach stehengeblieben und springt nicht mehr an.“ Da öffnet der zweite VW-Fahrer die vordere Haube des liegengebliebenen Autos und meint: „Kein Wunder, dass das Auto nicht fährt. Sie haben ja gar keinen Motor. Aber das macht nichts, ich habe bei mir hinten noch einen in Ersatz.“
Noch im Herbst desselben Jahres, gab es für mich die Möglichkeit, einen BMW – V 8 zu erwerben, der meinem früheren Schulkamerad (1959-62 Bugenhagenschule) J. gehörte. Der Wagen hatte acht Zylinder, 110 PS, 2600 cm³, Baujahr 1962, Lenkradschaltung und ein Armaturenbrett aus Echtholz. Farbe war beige. Im Sommer 1975 fuhr ich gemeinsam mit drei Freunden aus Schleswig und Schuby damit bis nach Südfrankreich in die Stadt Saint Marie de la Mer. Es war die Camargue mit den wilden Pferden und wir waren um den 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag dort. Abends, wenn die brütende Hitze nachgelassen hatte, setzten wir uns oft in einen der Biergärten. Einmal sah ich dort Paul Mc Cartney sitzen (meinte ich jedenfalls), aber ich wagte mich nicht, ihn anzusprechen und meine Freunde wollten es mir auch nicht glauben. Jedenfalls waren zu der Zeit wieder einmal viele Roma und Sinti aus ganz Europa hier versammelt. Das ist bis heute so Tradition.
Genau am 1.September 1975 zog ich zurück nach Schleswig, direkt neben die Bugenhagenschule, Friedrichstrasse 111. Mein V 8 war nicht mehr richtig fahrtüchtig. Er verlor innerhalb einer halben Stunde die gesamte Bremsflüssigkeit und ich kam an keine neuen Bremsschläuche ran. So stand er da nun vor dem Haus Friedrichstrasse 111. Mein Freund G., der mit mir auf dem Finanzamt Eckernförde arbeitete und damals in der Fritz-Reuter-Strasse wohnte, nahm mich dankenswerterweise jeden Morgen in seinem Opel Rekord mit. Und das ist auch eine Geschichte wert.
👉Schleigeschichten (c)
Zu meiner Zeit im Norden (1951 bis 1980) hieß es einfach „Schleswig an der Schlei“ (PLZ 238) und heute sagt man „Die Wikingerstadt am Ostseefjord“ (24837). Damals (1971) hatten wir gut 35.000 Einwohner, heute sind es nur noch 25.800. - - - Ab dem Jahr 1961 (34.400 E.) fuhren wir mit den katholischen Jugendgruppen an jedem 1. Mai nach Weseby. Das war auch gleichzeitig die Eröffnung der Schleischifffahrtssaison. Von der kleinen roten Kirche im Lollfuss liefen wir zum Schiffsanleger gegenüber der alten Schleihalle, die damals natürlich noch stand und bestiegen die „Möwe“ mit ihrem Kapitän, Herrn Bischoff. Im frischen Morgenwind ging es vorbei an der Möweninsel. Im Winter 1962 war ich mit meinem Vater und meinen Geschwistern diese Strecke auf der damals zugefrorenen Schlei bis hierher gewandert. Eigentlich war die Möweninsel Vogelschutzgebiet und durfte nicht betreten werden. Jedoch war dies erlaubt, wenn es eben die Eisverhältnisse zuließen. So betraten wir damals den letzten weißen Fleck Schleswigs. Ansonsten durfte dies nur der „Möwenkönig“ tun. Um 1110 n.Chr. baute Knud Lavard die Jürgensburg auf der Insel, von der es heute (und auch 1962) keine Reste mir gibt. Im Mittelalter konnte man die Möweninsel von der Altstadt her sogar über einen Holzsteg erreichen. Lachmöwen gibt es nachgewiesen auf der Insel seit 1739. - Auf der rechten Seite lag Haddeby. In den 1950er Jahren, als wir noch kein Auto hatten, sind wir als Familie oft vom Dannewerkredder mit dem Bus zur Schleihalle gefahren und von dort mit dem offenen Boot „Hans“ rüber nach Haddeby getuckert. Damals gab es in Haddeby rechts vom Schiffsanleger noch einen richtig breiten Sandstrand und wir bauten Burgen und plantschten im sauberen Schleiwasser. Da sich die meisten Schleswiger im Louisenbad, oder Marienbad, oder gar an Eckernförder Bucht aufhielten, hatten wir diese Idylle meist für uns alleine.
Als ich im Herbst Jahres 2015 (also nach fast 60 Jahren) genau an dieser Stelle war, fand ich nur noch Schilf bis ans Wasser und einen kleinen Yachthafen samt monströsem Eisenkran vor. Aber das Café (heute „Odins“) an der Hauptstrasse gab es damals schon und im Garten, im Schatten der damals bereits mächtigen Bäume, tranken wir Kinder ein Glas „Sinalco“ (sine alcohole = ohne Alkohol). - Nachdem wir die "Kleine Breite" und die Meerenge von Reesholm (Stexwiger Enge) hinter uns hatten, ging es über die nicht ganz ungefährliche Große Breite. Hier kam die „Möwe“ bei ungünstigem Wind oft ins Schaukeln. Natürlich passierte uns nichts. Ganz anders fast Andreas, meinem älteren Bruder. Unser damaliger Kaplan Mayer hatte ziemlich reiche Eltern. Sie besaßen in Osnabrück ein großes Café und sponserten der Schleswiger Kirchengemeinde für die Jugendarbeit ein Sportruderboot: ein Achter mit Steuermann. Andreas und „seine“ Crew, mit Hermann Grewe von der Band "Gourmands" (+), Siggi, Axel, Hänschen, Godehard und anderen, fuhren mit diesem Boot von dem Schiffsschuppen, der neben dem Freibad (links neben Luisenbad) stand, hinaus auf die Schlei bis nach Missunde und zurück. Bei einem ihrer Ausflüge wären sie fast mitten auf der Großen Breite gekentert, was ziemlich schlimm hätte ausgehen können, denn hier ist die Schlei über vier Kilometer breit. -
Als wir nun mit der „Möwe“ in Missunde (Sund = Meerenge) angelegt hatten, setzten wir (mit der von Hand betriebenen?) Fähre rüber von Angeln nach Schwansen (von einem Ufer zum anderen sind es hier nur 130 Meter und die Fähre gibt es seit 1960) und wanderten in einer langen Kolonne bis an die Steilküste von Weseby, von wo man gegenüber der Bucht der Großen Breite die alte Ziegelei von Borgwedel sehen konnte. An der Steilküste tobten wir rum und spielten am Strand viel Fußball. Es muss 1961 gewesen sein, als Peter M, von uns nur „Pemo“ genannt, mit vier von uns Jungs nach Borgwedel zur alten Ziegelei fuhr, um mit uns ein paar Tage dort zu zelten. Am ersten Abend gab es Erbsensuppe mit Kochmettwürsten und vorher hatte ich mir meinen rechten Unterschenkel heftig zwischen den Puffern zweier Loren, mit denen wir auf den noch vorhandenen Gleisen herumfuhren, eingeklemmt. Doch bereits am selben Aben war es schon vorbei mit der Zelterei. Pemo hatte nämlich ein paar finstere Gestalten, die um die Ziegelei schlichen ausgemacht, bekam die Panik und befahl, dass wir sofort die Zelte abbauen (besser: abreißen) und unsere Klamotten, so wie sie waren, in den Kofferraum des VWs stopfen sollten. Dann brauste er mit uns los, zurück auf die Hauptstrasse. Meine Mutter war hell entsetzt, als mich Pemo im Dannewerkredder abgesetzt hatte, denn all meine Sachen lagen wild durcheinander vor unserer Haustür. Und was Weseby anbetrifft: Zehn Jahre später habe ich hier mit meinem guten Kumpel Olaf „Ollie“ (+) einen meiner ersten Filme mit einer „Super 8“ – Kamera gedreht. Wir beide total langhaarig, verwegen schauend und ich spielte auf einer zwölfsaitigen Gitarre, die ich bei „Musik Reuter“ am Kornmarkt ganz spontan gekauft hatte. Den Film gibt es leider nicht mehr. Und das ist eine andere, etwas ärgerliche Geschichte, die ich vielleicht auch einmal erzähle.
👉Von Kiesgruben, einem Dampfbagger und Panzer (c)
Im November 1957 wurde mit dem Bau der Schleswiger Umgehungsstrasse begonnen. Die Bauarbeiten dauerten vier Jahre. Damals spielten wir oft auf dem Gelände hinter der Bugenhagenschule. Eigentlich mehr links davon und es war ein unwegsames und sumpfiges Gebiet (Öhr), wo wir auch Rohrkolben (wir nannten sie Fackeln) schnitten und sie im Husumer Baum für 10 Pfennige das Stück verkauften. Oder wir zündeten sie an und sie qualmten vor sich hin, deswegen „Fackeln“. Eine feste Strasse durch eine Kastanienallee führte zu einer alten Villa, wo ich mich aber nie hinwagte. Die Villa, eigentlich ein Landhaus, stand dort bis 1973. Ich kann mich gut an die Bauarbeiten an der Umgehungsstrasse erinnern und vor allem daran, wie der Damm entlang der Schlei höher und höher aufgeschüttet wurde. Ein Teil dieses Aufschüttungsmaterials kam aus der Kiesgrube gegenüber der Taufabrik Öllerking an der Margarethenwallstrasse. Eigentlich gab es da zur damaligen Zeit drei Kiesgruben. Die Vordere, am Beginn der Taufabrik und neben „Kohle-Tröndle“, die Mittlere am Ende der Fabrik, an deren Fuß, ein riesiger, grüner Öltank (BP) stand, und die Hintere, wo die Straße in einer Sackgasse endete und wo Heinerle und Peterle aus meiner Schulklasse lebten. Für uns Kinder war bisher immer die mittlere Kiesgrube der Favorit gewesen. Einmal führte sich einer der Halbstarken als „General“ auf. Wir mussten „Bunker“ in den Abhang graben und wir mussten vor ihm salutieren. Das habe ich nie fertiggebracht, obwohl mich „mein Vorgesetzter“ deswegen ganz schön zurechtwies. Aber bis heute habe ich so etwas nie tun müssen und wollte es auch nicht … Der Sand für den Damm der neuen B 76 (E 3) kam jedoch aus der vorderen Kiesgrube. Ich habe oft zugeschaut, wie der Bagger die Lastwagen belud und dabei mächtig qualmte. Dieser Bagger war schon damals so etwas wie ein Oldtimer und Sensation für uns Kinder. Denn er wurde nicht mit Dieselöl betrieben, sondern mit Wasserdampf, also mit einer Dampfmaschine. Es war einer der noch „lebenden“ Dampfbagger, die eigentlich seit Mitte der 1930er Jahre mehr und mehr durch solche mit Diesel- oder Elektromotor abgelöst worden waren. Eines Tages kam bei den Abbauarbeiten in dieser Kiesgrube tatsächlich ein alter Panzer zum Vorschein. Ich habe ihn selbst gesehen. Das Ende des 2. Weltkrieges war noch nicht einmal 15 Jahre her und es könnte auch sein, dass es sich um einen Panzer aus dem 1. Weltkrieg gehandelt hat. Aber wer weiß. Noch einmal 18 Jahre später verlor die Umgehungsstrasse durch die Fertigstellung der Autobahn A 7 an Schleswig vorbei und bis Flensburg an Bedeutung. Im September 2015 bin ich mit meinem alten Freund Willi auf diesem Schleswiger Umgehungswall gefahren, als wir beide unterwegs nach Strande bei Kiel waren, wo wir uns nach 38 Jahren das erste Mal wieder mit den restlichen Jungs der legendären Schleswiger Rockband „Menetekel“ aus den 1970er Jahren getroffen haben, um unser Comeback für 2016 zu planen. Wir alle … sind alt geworden :)
👉Scherben bringen [nicht immer] Glück ... (c)
Zu meinen Freunden gehörten Peter L. und die Brüder Heinerle und Peterle, welche mit ihren Eltern inmitten der Kiesgrube ganz am Ende der Margarethenwallstrasse wohnten. Vom Dannewerkredder her, wo ich damals zu Hause war, nur einen Steinwurf von der Kiesgrube entfernt, gab es einen Abhang, von dem wir uns oft bäuchlings herunterrollen ließen. Auch an jenem Tag, im Sommer 1961, spielten wir dieses Spiel. Zuerst Peter aus dem Thyraweg, dann Peterle und zum Schluss ich. Als ich unten angekommen und wieder aufgestanden war, scheuerte mir Peterle ohne Grund und Vorwarnung mit der flachen Hand furchtbar eine ins Gesicht. Ich war total geschockt, sauer und sehr zornig. Ohne was zu sagen, bückte ich mich und nahm das Erste, was ich sah in die rechte Hand und schleuderte es Peterle an den Unterschenkel. Wir alle hatten kurze Lederhosen an. Das war in den Monaten Mai bis September grundsätzlich jeden Tag so. Wäre es doch ein Stein gewesen! War es aber nicht, sondern es war eine weiße Glasscherbe, die da unerklärlicher Weise am Boden gelegen hatte, etwa so groß wie ein Fünf-Mark-Stück (Heiermann).
Dieses Geschoss verschwand im Bein meines Freundes und blieb auch dort, bis es nach gefühlten fünf langen Sekunden gemeinsam mit einem Schwall von Blut wieder herausgeschleudert wurde. Peterle schrie wie ein abgestochener Stier. Sofort sah ich meinen Vater im Gefängnis und mich im gefürchteten Paulihof, irgendwo Richtung Hühnerhäuser mitten im Wald. Peterle humpelte los in Richtung Kiesgrube und Peter stützte ihn ab. Ich selbst rannte auf die Strasse, die an der Firma Öllerking vorbei Richtung dem Husumer Baum führt und schrie um Hilfe, was sinnlos war, denn damals war es da sehr einsam. Dann, nach wohl 10 Minuten, kam ein Krankenwagen von Richtung „Kohlen-Tröndle“ und Peterle kam ins Krankenhaus.
Ich selbst schlich den langen Dannewerkredder nach Hause. Mein Verbrechen muss sich schon herumgesprochen haben, denn all die Jungs aus der Siedlung deuteten mir an, dass sie Bescheid wüssten und einige riefen. „Das wird ein Arschvoll geben!“ Stimmte nicht, denn ich bekam derer zwei! Als ich nach Hause kam, wusste meine Mutter sofort, dass ich was Schreckliches angestellt hatte. Sie brauchte mir nur in die Augen zu schauen. Ich beichtete ihr meine Untat und postwendend bekam ich was mit dem Kochlöffel auf den nackten Hintern. Als abends mein Vater nach getaner Arbeit nach Hause kam und es ein recht lautes Gespräch zwischen ihm und der Mutter gab, musste ich hinaus in den Flur und bekam noch einmal ein paar heftige Schläge mit dem Teppichklopfer aus Rohr von meinem Vater – ebenfalls auf den Nackten.
Natürlich habe ich Peterle dann im Krankenhaus besucht und ihm Süßigkeiten mitgebracht. Als ich nun nach 55 Jahren die Stelle meiner Missetat wieder aufsuchte (ich lebte und lebe noch immer 900 Kilometer weit weg nahe des Bodensees), musste ich feststellen, dass es zwar den Abhang noch gibt, dieser aber mit bis zu zehn Meter hohen Bäumen und hohem Gebüsch völlig zugewachsen war. Ich hoffe, auch Peterle’s tiefe Wunde am Bein und in der Seele ist so zugewachsen, wie dieser Hang – die Erinnerung jedoch wird bleiben ...
👉Klein – kleiner - Stefan
Am Ende des Thyrawegs, da wo heute der Abelsteg und andere Straßen verlaufen, gab es Ende der 1950er Jahre nur eine riesige Koppel, Äcker und viele Felder. Auf der Koppel trugen wir – Strasse gegen Strasse – unsere Fussballwettkämpfe aus. Obwohl ich mit acht Jahren einen halben Kopf kleiner war als meine Altersgenossen, durfte ich mitspielen. Als Rechtsaußen nämlich war ich ungemein schnell und rannte sogar den Großen davon. Ich war nicht schlecht im Fußball spielen, aber meine Eltern haben mir immer verboten, beim SV Friedrichsberg oder Schleswig 06 Mitglied zu werden, da ja die Spiele immer sonntags stattfanden und wir als „Katholen“ an diesem Tag zur Kirche gingen - und überhaupt soll man ja am Sonntag ruhen. Wer weiß, vielleicht hätte es 06 damals geschafft über die Landesliga hinauszukommen .
Jedenfalls kann ich mich an jenes Spiel erinnern, wo ich ausnahmsweise Mal im Tor stand (oder stehen musste) und es fürchterlich regnete. Jenes Spiel - an einem regnerischen Tag - fand aber nicht auf jener Koppel statt, sondern auf dem Rasen neben dem Rollschuh- und Kinderspielplatz im Dannewerkredder, da wo Freund Alfons L. wohnte. Ich gehörte zur Mannschaft meines großen Bruders Andreas, genannt auch „Dalle“. Es ging hin und her. Dann ein Angriff des Gegners, dessen Mittelfeldspieler fünf Meter vor meinem Tor voll abzog.
Damals waren die Fußbälle noch aus grobem, nicht imprägniertem Schweins-Leder, das sich bei Regenwetter voll mit Wasser sog und an dem der Schlamm so richtig anpappte. Dieser Ball aus kurzer Distanz abgefeuert, landete mitten in meinem kleinen und vernarbten Gesicht. Denn ein Jahr zuvor hatte ich nämlich einen schweren Verkehrsunfall überlebt, von dem ich später berichte. Der abgefeuerte Ball klatschte und tat so weh, dass ich es heute noch höre und spüre. Aber ich habe weitergespielt. Ein Schleswiger gibt nicht so schnell auf.
Apropos Körpergröße. Zwei Jahre zuvor sollte ich eingeschult werden. Als meine Mutter mit mir im Büro von Rektor Jürgensen (Bugenhagenschule) war, meinte dieser, ich solle doch mal zur Tür gehen und sie aufmachen. Da stand ich nun und versuchte, die Türklinke zu erreichen. Es gelang mir nicht. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und streckte meine Ärmchen aus. Zwar konnte ich nun die Türklinke berühren, aber bei dem Versuch sie hinunterzudrücken, rutschte ich immer wieder von ihr ab. Da hörte ich Rektor Jürgensen zu meiner Mutter sagen. „Da müssen wir wohl noch ein Jahr warten.“ Und so kam es und so war es auch gut so, denn so bekam ich Frau Benckmann als Klassenlehrerin und lernte Jockel aus dem Thyraweg und Heinerle und Peterle Clausen aus der Kiesgrube am Ende der Margarethenwallstrasse kennen. Und dazu gibt es auch noch eine Geschichte …
Übrigens war ich bis zur neunten Klasse der Bruno-Lorenzen-Schule von allen (Mädchen und Jungen) immer der Kleinste und wurde deswegen auch geärgert (heute sagt man: gemobbt) und rumgeschuckt. Erst als ich dann in besagter neunter Klasse sitzenblieb und in die Klasse von Volker kam, war da Heinz, der noch einmal ein paar Zentimeter kleiner als ich war. Das hob mein Selbstvertrauen. Doch bald musste ich dieses woanders herholen, denn im Laufe der zehnten Klasse wuchs Heinz im wahrsten Sinne des Wortes über mich hinaus. Und als wir auf Abschlussfahrt mit unserem Klassenlehrer Herrn Lojewski im Zug nach Oberstdorf saßen, war ich wieder mal der Kleinste im Waggon.
In der folgenden einjährigen Höheren Handelsschule, dann im Ausbildungslehrgang beim Schleswiger Finanzamt und in unserer Schleswiger Rockband „Menetekel“ war ich immer der Kleinste – bis heute hin, denn im Jahr 2015 haben wir uns nach 38 Jahren in Schleswig wieder getroffen: Willi, Charlie (+ 2017), Thomas, Volker und ich, der Schlagzeuger – da fällt es nicht so auf, wenn man klein ist. :) :)
👉 Rollergeschichten – Gibt’s doch gar nicht, doch bei … :)
Zu meinem 16. Geburtstag bekam ich endlich ein Fahrrad geschenkt. Mein reicher Patenonkel aus Dortmund, der dort ein Delikatessenfachgeschäft betrieb, hatte es mit 100 Mark gesponsert. Die Jahre davor hatte ich alle Strecken, die ich nicht zu Fuß ablief oder mit dem Bus fuhr, mit dem Roller zurückgelegt. Und es machte mir ungemein Spaß. Mehr als einmal baute ich mit diesem Gefährt durch meinen ungestümen Fahrten Unfälle und in den Sommermonaten waren meine Knie grundsätzlich immer aufgeschlagen. Als wir im Dannewerkredder wohnten (1951 – 61) und ich schon die Bugenhagenschule bei Frau Benckmann besuchte, holte ich mittags immer meine jüngeren Geschwister vom Kindergarten im Hornbrunnen ab. Zuerst meine Schwester Martina und später meinen kleineren Bruder Christoph. Ich hatte selbst vorher bei Tante Mine vormittags meine Kindheit verbracht. Und das Abholen tat ich natürlich mit dem Roller.
Die Hinfahrt, den Husumerbaum runter über die Bahnschienen nahe der Kohlehandlung Tröndle und durch die Fritz-Reuter-Straße, war ja kein Problem. Im Husumer Baum standen damals noch die Nachkriegsholzbaracken (gegenüber dem damals noch vorhandenen Fußballplatzes vom SV Friedrichsberg) und auf dem ersten Haus in der Fritz-Reuter-Straße gab es die Sirene für den Fall eines russischen Luftangriffs (kalter Krieg). In diesem Haus wohnte Sönke, mein Freund aus dem Kindergarten, der später einmal Kriminalhauptkommissar in Flensburg und eine regionale Berühmtheit wurde.
Die Rückfahrt gestaltete sich jedoch als eher schwierig. Meine Schwester und eben später mein Bruder setzten sich mit dem Hosenboden auf den vorderen Teil des Trittbrettes und legten ihre Füße auf das Schutzblech des Vorderrades und schlugen so also ihre Beine um die Lenkstange. Und so ginge es los, den Weg zurück.
Da wo die Fritz-Reuter-Strasse auf den Husumer Baum trifft, war gleich rechts (und ist noch heute) die Bahnunterführung. Doch bevor wir da durchfuhren, machten wir noch einen Abstecher 20 Meter nach links, wo eine „Bude“ (Kiosk) stand, bei der man Süßigkeiten kaufen konnte. Meist war es eine Tüte Salmis für 5 Pfennige, oder zwei Lollis, die wir dann auf dem Restrückweg gemeinsam und genüsslich lutschten. Als wir dann später im Seekamp (Sankt Jürgen) wohnten, kam ich eines Tages auf die verrückte Idee, gemeinsam mit Christoph auf dem Roller Richtung Missunde zu fahren und zwar genau in der Kinderkartenrückholweise. Mutti schmierte uns ein paar Stullen und gab uns eine Zitronensprudel (Bismarckquelle) mit. Das alles packte ich in einen sogenannten Matchbeutel, hängte ihn mir über die Schulter und los ging es.
Den Seekamp runter, rechts am Brautsee und links am Butterwerk vorbei und dann auf die Chaussee Richtung Süderbrarup, also die heutige Schleidörfer Strasse. Die B 201 in der Form gab es noch nicht, sondern nur ein kleines Teilstück davon, das wir allgemein als „Panzerstrasse“ bezeichneten. Obwohl es damals – Herbst 1963 – noch nicht soviel Straßenverkehr gab, war es doch aus Mangel von irgendwelchen Fahrradwegen nicht ungefährlich, die Schleidörfer Strasse in der Weise zu befahren. Dazu, daran kann ich mich gut erinnern, fuhren wir auch noch auf der falschen Straßenseite. Als die Zuckerfabrik rechter Hand in Sicht kam (da rauchte und roch es noch ordentlich), machten wir schon unsere erste Rast und in Klensby waren die Stullen aufgefuttert und die Brause war leer. Nun ließen wir Moldenit links liegen und näherten uns Füsing. Wir waren auf einer kleinen „Anhöhe“ angekommen und ich stoppte. „Was ist?“ fragte Christoph. Ich streckte meinen Arm nach vorne aus und meinte: „Siehst du dahinten das kleine Wäldchen bei der Straßenkurve.“
Mich erinnerte dieses dunkle Waldstück irgendwie an den „Krähenwald“, der zwischen Haddeby und Haithabu liegt. Da sind wir oft als Familie spazieren gegangen. Doch hier waren wir völlig allein, ohne Vati und Mutti. Und wer weiß, welche Gefahren da auf uns lauerten. So beschloss ich, dass wir unverzüglich umkehrten. Zwar protestierte mein kleiner Bruder, denn er wollte unbedingt die Fähre in Missunde sehen, aber es half nichts. So fuhren wir zurück bis Schleswig und zwar schneller, als zuvor, obwohl wir nun den Wind gegen uns hatten. :)
👉Die Rache des großen Vogelbruders
Als ich im Sankt Jürgen wohnte (1961 – 74), war Thomas mein bester Freund. Noch heute - erlebt in der Nähe von Kiel - haben wir noch einen freundschaftlichen Kontakt. Damals wohnte er "Am Brautsee" und ich im Seekamp (letztes Haus vor der Schule). Wir machten natürlich auch viel Blödsinn und nicht alles davon blieb ungestraft. So auch hier. An einem Tag im Sommer 1963 spielten wir bei uns im Garten und hatten nichts Besseres vor, als Steine nach den tief fliegenden Schwalben zu werfen, um die ein oder andere von ihnen zu treffen. Das machten wir mit Begeisterung wohl eine viertel Stunde, bis meine Mutter an die Scheibe klopfte und ihren berühmten Zeigefinger drohend hob.
Am folgenden Tag schickte sie wie sooft meine kleine Schwester Martina mit einer Milchkanne aus silbernem Blech zum Kaufmann hinter der neu gebauten "Sankt-Jürgen-Schule", um dort zwei Liter Milch zu kaufen. Meine Schwester musste dazu über die große Wiese, das „Feld“ und über den Schulhof, der Schule laufen. Der Kaufmannsladen war genau an der Ecke August-Sach-Straße/Johannistaler Weg (dort wo auch meine heimliche Liebe wohnte). Als Martina auf dem Rückweg bei dem Feld angekommen war, stürzte sich wie aus heiterem Himmel - im wahrsten Sinne des Worte - ein riesiger, schwarzer Vogel auf sie. So einen hatten wir alle noch nie gesehen. Er sah wie ein Rabe aus, war aber mindestens doppelt so groß.
Wie wir später herausfanden, war es ein Kolkrabe, der in Europa bis 1940 fast ausgestorben war und sich dann aber durch mangelnde Verfolgung wieder vermehren konnte. Der Kolkrabe ist mit einer Körperlänge von 54 bis 67 cm und einer Flügelspannweite von 115 bis 130 cm größer als ein Mäusebussard und der mit Abstand größte europäische Rabenvogel. Dieses gewaltige Tier also kam den langen schwarzen Haaren meiner kleinen Schwester so nahe, dass sie um ihr Leben fürchtete. Sie schmiss die volle Milchkanne in hohen Bogen weg und rannte kreischend, so schnell sie konnte nach Hause. Zu Hause angekommen, wunderte sich Mutti natürlich, da Martina die Milchkanne fehlte, und als diese der Mutter erzählte was passiert war, meinte sie später zu uns Kindern „Das war wohl die Rache des großen Vogelbruders, wegen der Schwalben, die Stefan gestern so geärgert hat.“ Ich hab’s geglaubt und glaube es bis heute … jedenfalls habe ich nie wieder Jagd auf Vögel gemacht ...
👉Von Alfons, dem Flieder, viel Blut, einem Engel und "Bergen" (c)
Eines Tages kam Freund Alfons auf die Idee – es war wohl im Herbst 1960 – dass wir unseren Müttern jeweils einen Fliederstrauß schenken könnten. Er hatte auch schon zwei Messer besorgt, denn meine Mutter hätte es mir eh verweigert, weswegen ich erst gar nicht danach gefragt hatte. Alfons’ Messer war o.k., doch meines war stumpf und rostig und die Spitze war abgebrochen. So zogen wir los. Den Margarethenwall hinunter, bei Öllerking über die Straße und über das Bahngleis, das damals noch bis zum Fliegerhorst Jagel und bis nach Kropp ging, über den Bach, der in den Busdorfer Teich fließt, und die einfachen und primitiven Stufen hinauf zum Moosberg.
Und hier fanden wir tatsächlich am Beginn einem der Knicks den Flieder. Während Alfons eifrig an einem Ast herumschnitt, entschloss ich mich, die Sache anders anzugehen. Ich schlug mit dem Messer, die abgebrochene Spitze voran, auf einen der Äste. Eins, zwei, drei – doch beim vierten Hieb schon rutschte mir das Messer ab und fuhr mir mit aller Wucht bis auf den Knochen in den linken Daum, da wo er zur Hand übergeht. Das Blut spritze. Instinktiv lief ich sofort los – Richtung nach Hause. Alfons „checkte“ gar nichts und begriff erst, als ich schon 100 Meter gelaufen war. Er wollte mir folgen, blieb aber weit zurück, denn sehr schnell laufen, das konnte ich schon immer. Und jetzt erst! Die Stufen hinunter, über den Bach, das Bahngleis, die Strasse, den Margarethewall hinauf. Da kam mir ein Spaziergänger entgegen. Ich war nicht nur aus der Puste, sondern auch halb verblutet. Der Mann – er war wohl so Anfang 30 Jahre alt - ergriff sofort beherzt meine rechte Hand, dreht um und lief mit mir die 150 Meter bis zum Anfang des Dannewerkredders, wo er sein Auto, einen VW-Käfer mit kleiner Heckscheibe, am Straßenrand abgestellt hatte.
Er raste mit mir in Richtung Husumer Baum, Melkstediek, Karpfenteich, über die Bahnschienen und die Bahnhofstrasse hinunter. Er fuhr bestimmt 95 kmh und Radarkontrollen gab es ja da noch nicht. Am Ende der Bahnhofstrasse hatte Doktor Zieroth, unser Kinderarzt seine Praxis und er schloss die Daumwunde mit zwei Klammern. Ich war gerettet und der nette Herr fuhr mich nach Hause. Ein Engel auf meinem Lebensweg. - Nach 55 Jahren bin ich diese Strecke noch einmal abgelaufen – gemütlich natürlich. Die Bahngleise sind abgebaut, der Bach plätschert immer noch. Als Kinder hatten wir in ihm immer Stichlinge gefangen und mit nach Hause genommen, wo sie gerade mal zwei Tage im Weckglas überlebten.
Später, als wir Halbstarke waren und ich schon im Sankt Jürgen wohnte, haben wir hier unsere ersten Biere und Korn getrunken. Und die Treppe zum Moosberg hoch – na ja. Die war früher uriger, natürlicher, in Sand gegrabene Stufen mit Holzbrettern abgestützt. Jetzt ist es mehr ein Stahlgerüst mit Bänken zum Ausruhen. Aber man sieht teilweise noch die Überreste des alten Aufstiegs. Apropos Berg. Natürlich ist der „Moosberg“ gar kein Berg (und der Erdbeerberg schon gar nicht).Wir Schleswiger Jungs haben die richtigen Berge auf einer späteren Klassenfahrt der Bruno-Lorenzen-Schule 1969 nach Oberstdorf und ins Kleine Walsertal kennengelernt. Mit dabei waren damals Sönke, Gert und Rolf, Heinz und Volker. Aber das ist eine andere Geschichte.
👉Storch fängt Wellensittich (c)
In unserer Friedrichsberger Siedlung (Dannewerkredder / Thyraweg / Haithabuweg und -ring) in Schleswig in den 1950er und 60er Jahren gab es einen Jungen, der immer nur „Storch“ genannt wurde. Er war schon einer von den Größeren und trug damals schon total enge Blue Jeans, während ich beispielsweise mit schlotternden, von Mutti selbst genähten Stoffhosen rumlaufen musste. (Das Bild ist zur Veröffentlichung nicht geeignet) Dieser Bursche wurde deshalb so genannt, weil er immer wieder versuchte, den reiferen Mädchen ein Kind zu machen, was ich damals natürlich überhaupt nicht wusste und auch nie begriffen hätte, wie so was geht und so.
Hinter unserem "Haus" gab es einen Garten, in dem drei Bäume standen: ein Tannenbaum, ein Kirschbaum und ein Pflaumenbaum. Eines Tages stürmte ein ganzer Trupp von Nachbarskindern auf den Hof unseres Häuserblocks in Richtung dieses Gartens und kreischte. Ich begriff gar nichts. Doch dann bemerkte ich jenen grün-gelben Vogel, der sich in diesem Moment auf der Spitze des Kirschbaumes niederließ. Den Kindern folgte eine ältere Dame, die jammerte: „Mein Vogel, mein Vogel. Komm Spatzi, komm Spatzi.“ Doch der Wellensittich dachte nicht daran, vom Baum herunterzukommen, sondern er putzte sich unerlässlich sein Gefieder. Was tun? Es gab nur eine Möglichkeit: Jemand musste auf den Baum klettern und Spatzi fangen. Aber niemand von uns wagte sich das. Da gab es nur einen, dem wir das zutrauten, das war eben jener verwegener Storch.
Mein älterer Bruder Andreas lief zum Thyraweg und kam mit Storch zurück. Dieser verhandelte mit der alten Dame und kletterte dann ohne zu zögern in den Baum hinauf. Und tatsächlich gelang es ihm, den Vogel zu fangen. Als er mit Spatzi in der Hand auf die Besitzerin zuging, bildeten wir ehrfürchtig ein Spalier. Sie nahm den Vogel und gab Storch dafür die vorher vereinbarten 50 Pfennige. Das war viel Geld. Ich weiß noch, dass Storch sofort zu Herrn Thel, den Gastwirt am unteren Ende des Dannewerkredders loszog, um sich dafür bei ihm eine Schachtel Zigaretten zu kaufen. Wahrscheinlich waren es 11 Eckstein - ohne Filter.
👉Mein Weg von Schleswig nach Rom (c)
Im Sommer 1960 fanden in Rom die Olympischen Spiele statt. Das wussten wir durch die Nachrichten im Radio. Die meisten Familien aus unserer Friedrichsberger Siedlung in Schleswig konnten sich damals einen Fernseher nicht leisten. Am wenigsten wohl meine Eltern. Die Eltern von Kurt und Alfons hatten einen. Wir waren vier Kinder im Alter zwischen zwölf und vier Jahren. Vati hatte nicht unbedingt einen lukrativen Beruf und Kindergeld gab es damals auch noch nicht. Aber Herr Thel hatte einen Fernseher. Er war Gastwirt in der kleinen Geschäftszeile am Ende der Strasse, gegenüber dem Friedhof. In dieser Geschäftszeile gab es ein Fischgeschäft (Schmid), ein Lebensmittelgeschäft (Sauerbaum), einen Frisör (Grochla) und einen Fleischer (NN). Auf der anderen Seite der Straßenkreuzung gab es einen „Konsum“, in den meine Eltern aber auf keinen Fall gingen und uns auch verboten, dies zu tun, denn das seien Kommunisten aus der Ostzone, sagte mein Vater und. wäre nur was für SPD - Wähler . Er und meine Mutter wählten immer CDU, denn wir waren streng katholisch.
Herr Thel erlaubte uns, bei ihm fern zu sehen. Für zwei Stunden nahm er pro Person 20 Pfennige. Oft standen wir in einer Gruppe von Kindern vor seiner Kneipe, bis er uns zu Lassie, Fury, Zorro, Rin Tin Tin oder Kater Mickesch hineinließ. Und natürlich zu den Übertragungen aus Rom von den Olympischen Spielen. Da saßen wir nun im Nebenzimmer und sahen für 20 Pfennige (das war das Taschengeld für eine Woche, mein älterer Bruder Andreas erhielt 50 Pfennige) den unglaublichen 100 Meter Lauf von Armin Harry in nur 10,0 Sekunden, womit er seinen eigenen Weltrekord einstellte.
Bevor wir in das Fernsehzimmer gelangten, mussten wir durch den Schankraum. Noch heute sehe ich die Männer am Tresen sitzen und Herrn Thel den Schaum von den vollen Biergläsern mit der weißen Kelle wischen. Ich sehe auch die Leute, die in den Metallkasten an der Wand in den Schlitz mit ihrer Nummer ein Geldstück zum Sparen einwarfen. Das war mir irgendwie sehr suspekt, denn Geld zum Sparen hatten wir in unserer Familie nicht übrig. Im Gegenteil: Einmal pro Woche bekamen wir über die Katholische Kirche sogenannte Carepakete aus den USA. Es waren übergroße Konservendosen mit Käse und Milchpulver. Noch heute – nach 65 Jahren – spüre ich dieses an meinem Gaumen klebend. - Unseren ersten Fernseher bekamen wir erst 1970 zur Fussballweltmeisterschaft in Mexiko. Aber da wohnten wir schon im Stadtteil Sankt Jürgen.
👉Häuptling – Wunsch und Wirklichkeit (c)
Im Sommer 1961 zogen wir vom Friedrichsberg in den Sankt Jürgen. Nach einem Jahr Gallbergschule, wechselt ich auf die Realschule am Ende der recht langen Michaelisallee, direkt neben dem Stadion. Vom Seekamp bis dahin brauchte ich 35 Minuten strammen Schrittes. Ich hasste diese Schulzeit – zumindest bis zur 9. Klasse, wo ich wegen der Kurzschuljahre mit acht weiteren Kameraden sitzenblieb und auf Sönke und Volker traf, mit dem ich dann eine Band gründete. Auf dem Rückweg, meist nach der 6. Stunde, ging es mir wesentlich besser, denn da war ich Winnetou, so wie ich ihn ein Jahr zuvor in dem Film „Der Schatz im Silbersee“ mit Pierre Brice im „Metro“ (gibt es heute nicht mehr) gesehen hatte.
Statt zu Fuß zu trotten, ritt ich nun auf Iltschi und mein Kommisshaarschnitt hatte sich in eine lange, im Wind wehende schwarze Mähne verwandelt. Die Aktentasche war meine „Silberbüchse“, aus der ich alle zehn Meter hörbar (ich machte die Schussgeräusche ziemlich echt mit dem Mund nach) einen Schuss auf Santer, oder auf die feindlichen Komantschen abgab. Und natürlich war ich wie Winnetou gekleidet.
Nach dem langen Weg durch die Allee, über die Bismarckstrasse an der damals noch stehenden Michaeliskirche und dem Polierteich vorbei, die Treppe hoch zum PLK und durch den halben Sankt Jürgen, gelangte ich an die große Wiese, die wir nur das „Feld“ nannten. Die Sankt-Jürgen-Schule war gerade fertig gestellt worden und das heutige Sportgelände lag völlig brach. Die beiden Hochhäusern, die damals da hochgezogen wurden, waren noch nicht fertig gebaut. Für mich begann nun das eigentliche Spektakel. Von weitem schon konnte ich das Elternhaus sehen, neben dem später der Kindergarten gebaut wurde, und es war natürlich das Pueblo der Mescaleros-Apatschen, die mich schon von weitem laut begrüßten: „Winnetou kommt, Winnetou kommt.“ Dabei hörte ich ganz klar und deutlich die Musik von Martin Bötttcher, die den Film „Der Schatz im Silbersee“ untermalt hatte.
Thomas, ein paar weitere Jungs und ich hatten zu der Zeit die sogenannte „Weiße Bande“ gegründet, die vor allem deshalb gefürchtet war, weil wir einen Jungen, der nicht mit uns spielen durfte, eines Tages abfingen und ihn in einem Knick unten am Johannistalerweg folterten. Wir banden ihm die Füße an einer Wurzel fest, legten ihn mit dem Rücken über einen Ast und befestigten seine Arme auf der anderen Seite mit einem Tau ebenso am Boden. Das war schon schlimm genug. Doch wir hatten an dem Tau einen Knebel, so wie es auch Karl May beschreibt, befestigt und drehten diesen, damit sich das Seil und der Körper unseres Opfers strafften. Abends kam die Mutter mit dem Gepeinigten zu uns nach Hause und ein Arschvoll von meinem Vater war fällig. Eines Tages beschlossen wir, dass wir einen Häuptling bräuchten. Aufgrund meiner Winnetouphantasien war ich dafür natürlich prädestiniert. Aber komischerweise wollten die anderen nicht so recht mich, sondern Thomas als Chef der Bande. Das ließ ich mir nicht gefallen und ich hielt eine glühende Wahlrede, in der ich alle meine Vorzüge anpries. Es half nichts. Bei der anschließenden Wahl erhielt Thomas eine Stimme mehr als ich und statt Winnetou wurde nun Old Shatterhand der Anführer unserer Gang. Ich war zwar eingeschnappt, doch war ich getröstet, als mir mein älterer Bruder sagte, dass ein Häuptling immer nur so gut ist, wie es seine Indianer sind . . . :)
👉Wenn ich den Schleswiger Bahnhof sehe …
Als ich im Juli 2015 das erste Mal nach 35 Jahren aus Richtung Süden kommend in Schleswig aus dem Zug stieg, wurde ich unwillkürlich in meine Kindheit zurückversetzt, denn das Vordach und der sogenannte Gaubengang waren genau in dem Zustand, wie schon in den 1950er Jahren. Mit der Ausnahme, dass damals hier ein kleines Schalterhäuschen stand, an dem man für 20 Pfennige eine Bahnsteigkarte kaufen musste. Das Holz war damals schon morsch und die gelbliche Farbe blätterte damals schon ab. Kommt man/frau allerdings dann in die eigentliche Bahnhofshalle, erfasst einen irgendwie das nackte Grauen. Der Schleswiger Bahnhof wurde zwei Tage vor Sylvester 1869 eröffnet und steht unter Denkmalschutz. Aber das ist meiner Meinung nach kein Grund, alles so verkommen zu lassen. Ich brauche nicht zu schildern was ich meine, denn die LeserInnen kennen den Zustand des Bahnhofs im Jahr 2015 besser als ich. Übrigens hat sich in den vergangenen drei vier Jahren bis 2025 hier dann doch viel getan.
Ich gehe einmal 65 Jahre zurück und schildere, wie es in meiner frühesten Kindheit dort war. Damals lebte ich im Dannewerkredder und Wolfgang, Bernd, Jockel und ich zogen oft hinunter zum Bahnhof, um dort zu spielen und Züge zu gucken. Am unteren Karpfenteich überquerten wir die Bahngeleise (das kann man/frau heute nicht mehr) und am Bahnhof angekommen, tobten wir auf den Handkarren, die mit Postsäcken beladen waren. Und natürlich kamen von Dampfloks betriebene Züge aus Richtung Flensburg oder Rendsburg, die am Schleswiger Bahnhof Wasser nachtankten. Im Bahnhof selbst gab es zwei Kioske. Einen links vom Eingang für Süßigkeiten und Fresskram und einen für Zeitungen und Zeitschriften dort, wo heute der Ticketautomat ist. Rechts daneben war die Gepäckabgabe und –Annahmestelle, die heute komplett zugemauert ist.
Ich bekam 20 Pfennige Taschengeld in der Woche. Für fünf Pfennige kaufte ich mir im Bahnhof immer einen Salino, an dem ich mindestens ½ Stunde herumlutschte, oder eine kleine Tüte Salmiakpastillen (ebenfalls fünf Pfennig), mit denen ich mir einen Stern auf die Hand klebte und ihn nach und nach mit der Zunge auflöste.
Fragt der Friseur den Kunden: "Möchten Sie die Stirnlocke behalten?"
"Ja, auf jeden Fall!" antwortet dieser.
Daraufhin der Frisör: "Gut" - schnipp - "hier ist sie, ich packe sie Ihnen ein."
👉Schleswig und meine Frisöre
Mein erster Frisör(in) war meine Mutter. Immer dann, wenn die ersten Haarspitzen an mein Ohr stießen, musste ich mich auf den Küchenstuhl setzen, bekam einen Umhang um und Mutti fing an, mit der Handschneidemaschine die Haare so zu kürzen, dass es für die nächsten sechs Monate reichte. Ich sah grauenhaft damit aus. Als ich ungefähr sieben Jahre alt war, durfte ich das erste Mal zu einem richtigen Frisör. Es war Herr Grochla, der seinen Laden nicht weit weg an der Ecke Dannewerkredder/Husumerbaum hatte. Neben seinem Geschäft war die Kneipe von Herrn Thel, bei dem wir immer für 20 Pfennige Lassy, Kater Mickesch, Zorro und Fury sehen durften. Und auch Sauerbaums hatten da ihr kleines Lebensmittelgeschäft. Der „Herrenschnitt“ bei Herrn Grochla kostete 1,10 Mark und es roch in seinem Laden immer gut nach irgendwelchen Parfüms und so. Allerdings fragte und redete er fast ununterbrochen, wenn ich dort bei ihm auf dem hochmodernen Stuhl saß, den man drehen und hoch- und herunterbewegen konnte. Deshalb ging ich dann manchmal lieber zu Herrn Maas, der seinen Salon direkt neben der Bugenhagenschule hatte. Das war zwar wesentlich weiter, aber bei ihm kostete der „Fassonschnitt“ nur 70 Pfennige, was meiner Mutter auch recht war.
Als wir 1962 in den Sankt Jürgen umzogen, durfte nur noch meine Mutter mir die Haare schneiden, allerdings mit ganz klaren Anweisungen von mir. Denn die Haare waren zu einem Statussymbol geworden. Mein drei Jahre älterer Bruder hatte sie so lang, wie die Beatles. Die damalige Schleswiger Band „The Gourmands“ um Hermann Greve, der viel zu früh verstorben ist, wollte meinen Bruder als „Haarschüttler“ engagieren, aber daraus wurde dann doch nichts. Hier bei den langen Haaren allerdings setzte mir Mutti mir eine klare Grenze, bis ich mich schließlich 1967 durchsetzen konnte und die Haare mehr oder weniger lang wachsen ließ, bis ich 1970 eine Ausbildung beim Finanzamt anfing.
Ein paar Tage vor Ausbildungsbeginn am 1. September 1970 ging ich zum Frisör, der in der damaligen Ladenzeile bei den beiden Hochhäusern "Am Brautsee" seinen Salon hatte. Eine junge Dame schnitt mir die Haare, und als sie fertig war, sagte ich ihr: „Ich werde jetzt alle sechs Wochen zu Ihnen kommen, denn ich arbeitet jetzt beim Finanzamt.“ Tat ich aber nicht, im Gegenteil. Bis September 1979, wo ich geheiratet habe und inzwischen in Flensburg lebte, sah ich keinen Frisörsalon von innen. Bis dahin ließ ich meine Haare und inzwischen auch Bart ungezügelt wachsen – bis auf eine kleine Ausnahme. 1972 wollte mir meine Freundin (wir waren schon drei Jahre zusammen) unbedingt ein klein wenig die Haare kürzen. Da ich sie liebte, ließ ich es zu. Sie legte also los und schnitt mir die Haare ziemlich krumm und schief und das mit voller Absicht. Drei Tage später nämlich, machte sie mit mir „Schluss“, was sie aber vorher schon geplant hatte (wie sie mir später einmal beichtete). Und da sie trotz der Beendigung unserer Freundschaft in Bezug auf mich hochgradig eifersüchtig blieb, wollte sie nicht, dass sich ein anderes Mädchen in mich verguckt. Das ist ihr auch gelungen, bis 1974 meine Haarpracht wieder in Ordnung war. Aber das ist eine andere Geschichte.
👉D E Z E M B E R (c)
Obwohl ich als Kind und heranwachsender Jugendlicher den Sommer überaus liebte, war doch der Dezember mein Lieblingsmonat. In den 1960er Jahren gab es in der neu gründeten Fußballbundesliga einen Torwart von 1860 München, den es nie im eigenen Strafraum hielt, sondern der gewagte und gekonnte Ausflüge bis in die Hälfte des Gegners machte. Er spielte aber nicht nur Fußball, sondern sang auch das Lied „Bin i Radi, bin i König … und das Spielfeld ist mein Königreich.“ (wurde 400.000 Mal verkauft). Wenn ich am letzten Schultag vor den großen Sommerferien auf dem Heimweg durch die Michaelisallee ging, sang ich (und das stimmt) "Bin i Stefan, bin i König … und die Ferien sind mein Königreich.“
Übrigens rätselte ich jahrelang über die Richtigkeit der Rechtschreibung und Aussprache der „ALLEEHALLE“, einer Kneipe am Ende der Michaelisallee an der Bismarckstrasse. Es waren doch irgendwie merkwürdig viele „L“s und „E“s in diesem Wort und ich bekam das nicht ganz auf die Reihe. Auch wenn ich den Sommer liebte, der Dezember war wie gesagt die schönste Zeit für mich. Es fing an mit dem 1.Advent und den ersten Lebkuchen (und nicht schon Ende August). Dann kam der 6., der Nikolaustag, wo wir vier Geschwister immer einen „bunten“ Teller mit sogar einem ganzen Marzipanbrot bekamen. Schon drei Tage später hatte ich Geburtstag und bekam immer Sachen geschenkt, über die ich mich riesig freute. Und dann natürlich Weihnachten mit der unglaublichen Atmosphäre am Heiligen Abend, wo die Spannung bis 16 Uhr unerträglich wurde. Das war aber nicht alles. Am 26. Dezember 1951 wurde ich in der roten Kirche im Lollfuss auf den Namen „Stefan“ getauft (wörtlich aus dem Griechischen = der Gekrönte). Ein damals recht seltener Name in Deutschland. Nun gilt der 26.12. nicht nur als 2. Weihnachtsfeiertag, sondern in der Katholischen Kirche auch als „Stephanustag“. Folglich hatte ich zwei Tage nach dem Heiligen Abend immer meinen Namenstag und bekam noch einmal ein kleines Geschenk und ich wurde gefeiert. Schon bald vermutete ich, dass dieses Zusatzgeschenk ein solches nicht war, sondern die Eltern es mir bei der Bescherung abgezogen hatten. Aber das machte mir nichts, denn ich habe meinen Namen immer geliebt, denn Stephanus war ein mutiger Mann gewesen
… doch auch das ist noch nicht alles, was den Dezember anbetrifft. Als ich meinen 14. Geburtstag feierte und mein Vater uns in der Geburtstagsrunde (es waren fünf Freunde gekommen) Zauberstücke vorführte, klingelte das Telefon (ich weiß noch heute unsere damalige Nummer: 04621 – 25222) und nicht ich, sondern mein Vater ging aus gutem Grund ran. Er sagte so Worte wie „danke“, „wunderbar“, „wie schön“ und noch mal „danke“. Wir Kinder waren still geworden. Mein Vater drehte sich zu uns um und sagte: „Gerade hat meine Frau ein Mädchen zur Welt gebracht.“ Das muss man sich auch mal vorstellen – an meinem 14. Geburtstag! Punktgenau! Und nun waren wir fünf Geschwister und ich konnte und kann bis heute mit meiner jüngsten Schwester am selben Tag Geburtstag feiern. Wir Geschwister leben heute übrigens in der ganzen Republik verstreut: Busdorf/Schleswig – Hamburg/Berlin – Göttingen – bei Freiburg – Ravensburg. Aber geboren und aufgewachsen sind wir alle in Schleswig.
👉SURREAL und REAL (c)
Es war schon eine irgendwie surreale Situation. Im Jahre 1988 hatten meine Frau und ich mit den beiden kleinen Kindern (sieben und drei Jahre alt) meine Mutter in Schleswig im Seekamp besucht. Zu der Zeit hatte ich mein Theologiestudium schon längst abgeschlossen und war nun Pastoralrefernt (Vikar) in Sonthofen, gleich neben Oberstdorf, unterhalb von Grünten (1760 m) und Nebelhorn (2220 m) im tiefsten Oberallgäu. Da ging ich nun mit dem Hund meiner Mutter in Richtung Brautsee. Es war spät am Abend. Es muss ein Südwestwind geherrscht haben, denn von den Königswiesen her hörte ich Musik und eine Stimme singen. Es war nicht irgendeine Musik und schon gar nicht irgendein Sänger. Ich hatte es einen Tag zuvor in den „Schleswiger Nachrichten“ gelesen. Es war die verrückte Band „Torfrock“ mit ihrem legendären Sänger, Klaus Büchner. Er hatte geschafft, wovon wir alle 14 Jahre vorher geträumt hatten. Wir, das waren die Mitglieder der beiden damaligen Schleswiger Rockgruppen „September“ und „Menetekel“, die später zu der Letzteren fusionierten.
1974 war ich bei Menetekel ausgestiegen und zu Willis eigenwilliger Band als Drummer gewechselt. Wir übten immer bei Rolf in Lürschau. Wir suchten noch einen guten Sänger. Und eines Tages stieß dieser blonde Wuschelkopf, der ziemlich irre drauf war, zu uns. Er hieß Klaus und konnte wirklich gut singen. Aber nicht nur das. Er überraschte uns mit seiner Altflöte und deutschen Texten, die das Leben realistisch beschrieben. Das war ne geile Zeit. Dann 1975 sagte er uns eines Tages, dass er nach Hamburg gehen würde, um dort musikalisch was auf die Beine zu stellen. Als wir anderen abends im „Störtebeker“ saßen, heulte Willi deswegen. Nun waren viele Jahre vergangen und von der Schlei hörte ich: „Unser Häuptling heißt ‚Rote Locke’.“ Wie gesagt: surreal. Ich war fromm und Prediger mit Bibel geworden und „Klütten“, wie wir Klaus Büchner immer nannten, war nun genau das Gegenteil (so sah ich das damals jedenfalls). Und das war ja noch nicht alles. Es ging ja mit „Klaus & Klaus“ und den „Wernerfilmen“ noch weiter.
Seit dem nun 50Jahre vergangen. Ich bin vom Pastor zum Sozialarbeiter geworden und inzwischen bin ich in Rente und ganz so fromm bin ich auch nicht mehr. Jedenfalls kam ich Anfang Juni 2015 auf die Idee und es war auch mein tiefer Wunsch, „back to the roods“ zu gelangen – auch musikalisch. Tatsächlich trafen wir uns (jedenfalls die meisten) im selben Jahr im "Ruhekrug", der von Familie Petersen betrieben wird (früher "Eiche" im Stadtweg) und bauten die alte Band wieder auf. Sie gibt es noch heute. Und da die Entfernung für mich doch allzu weit war und "man doch leider nicht da anknüpfen kann, wo man aufgehört hat", ging ich ab 2017 dann eigene musikalische Wege rund um den Bodensee.
👉Eine unglaubliche und doch wahre Schleswiger Geschichte (c)
Immer wenn ich in den Jahren 2015 und 2016 nach Schleswig kam und mit dem Taxi vom Bahnhof in meine Pension fuhr, frage ich die Taxifahrer, ob sie sich an die Rockband MENETEKEL erinnern. Mene-was? Nie gehört. Mene Theke, die steht doch bei mir im Keller. Frustrierend. Bei einem meiner Besuche in jenen Jahren entschloss ich mich, in den Friedrichsberg zu gehen, um an dem Haus zu klingeln, in dem ich in den Jahren 1951 - 61 aufgewachsen war. Nach einer Weile öffnete sich die Tür und ich erzählte der netten Dame, wieso und weshalb ich hier stehe. Endlich nach einer Weile bat sie mich auch herein. Am Tisch saß ein Riese von Mann (ich bin nur 1,67 klein). Auf seinem T-Shirt stand "Motörhead". Aha, ein Musiker, oder so. Ich erzählte meine Geschichte weiter, dass ich hier in dieser Wohnung mit meinen Eltern und Geschwistern vor 60 Jahren gelebt hatte. Dann fragte ich den Hausherrn: Kennen Sie die Schleswiger Rockband MENETEKEL? Ich war natürlich wieder auf so eine frustrierende Taxifahrerantwort gefasst. Doch zu meinem Erstaunen sagte mein Gegenüber. "Na klar kenne ich MENETEKEL. Ich bin der Bassist dieser Band, also der Folgeband von MENETEKEL, die jetzt 'Coast to Coast' heißt." Als ich dann erzählte, dass ich 1969 mit Volker, Thomasr, Charlie (+) und später Willi MENETEKEL gegründet hatte und nun nach Schleswig zurückkomme, um diese "legendäre" Band in der Besetzung der 1970er Jahre wieder aufzubauen, fiel Wolfgang "Motörhead" dann doch nichts mehr ein. "Du bist Steven?! Und du weißt ja, dass Willi Lück immer noch unser Gitarrist ist. Er hat von Dir und deinem Vorhaben erzählt. Wir haben uns vor zwei Jahren umbenannt. Ich glaub, ich spinne."
Und ich erst! Da komme ich nach 53 Jahren in meine "Kinderstube" zurück und treffe auf jemanden, der heute in "meiner" Band spielt. Wow. Sofort standen zwei "Flens" auf dem Tisch und wir gingen zum "Du" über. Weil das alles so unfassbar war, musste Wolfgangs Ehefrau ein Foto von uns machen, als Beweis. Er 2,01 m und ich einen ganzen Kopf kleiner. Unglaublich, aber wahr.
👉Was passiert, wenn man tut, was ein Lehrer sagt (c)
Ich hasste nichts mehr, als den Sportunterricht im Winterhalbjahr. Da war Geräteturnen dran: Reck, Barren, Kasten, Sprossenwand bis unter die Decke, Bodenturnen und solche Sachen. Das konnte ich alles nicht und davor hatte ich auch Angst. Das war im Sommer ganz anders. Ich war im Laufen schnell und ausdauernd (bis ich mit 16 Jahren meinem älteren Bruder die Pfeife klaute und heimlich rauchte, dann umstieg auf Peer 100, dann HB, dann Rothändle …). In der 5. Klasse warf ich den Schlagball bereits 54 Meter und sprang 4,30 Meter weit. Aber der Sport in der Halle der Bruno-Lorenzen-Schule, gegenüber dem Finanzamt, war für mich der Horror. Besonders schlimm war es am Reck. Der Aufschwung war OK. Die Stange lag knapp unterhalb des Bauchnabels. Nun aber die Drehung um 360 Grad. Die schaffte ich nur zur Hälfte. Da hing ich nun mit dem Kopf nach unten und kam nicht weiter. Mir schoss das Blut in den Kopf und die Reckstange war mir bis zu den Hoden gerutscht. Gerade wollte ich loslassen, als der Sportlehrer mir einen Schubs gab und ich gerettet war.
So ging es jedes Mal. Doch einmal war es anders. Inzwischen waren Mädchen und Jungen beim Sport getrennt, denn die Mädchen waren keine Mädchen mehr. So versammelte Herr Thomsen uns Jungs an diesem Tag um sich herum und erklärte uns, wie man boxt. Cassius Clay alias Muhammed Ali war damals im Kommen. Der Sportlehrer hatte zwei Paar Boxhandschuhe dabei und sprach von Beinarbeit, Verteidigung, Täuschen und Zuschlagen und zeigte, wie es geht. Ich fand das gut, denn mein Vater war in den 1930er Jahren ein sehr guter Amateurboxer in Frankfurt an der Oder gewesen. Er hatte mir einige Fotos von sich im Boxring gezeigt. -
Ich hörte also genau zu und schaute auch genau hin, wenn uns Herr Th. die Tricks zeigte. Dann ging es an die Praxis. Immer zwei gegeneinander. Das war recht harmlos und ging auch gut, bis ich dran war. „Wer kämpft gegen Stefan?“ fragte der Sportlehrer. Ich war der Allerkleinste in der Klasse. Manfred, der zehn Zentimeter größer und auch breiter war als ich, meldete sich. Da stand er also vor mir und versuchte, mich mit seinen Schlägen zu treffen. Ich aber, klein und flink, wich den Angriffen geschickt aus. Dann sah ich einen gewaltigen Schlag kommen. Ich drehte mich etwas zur Seite, hob die Schulter ans Kinn, so wie es Herr Th. vorgemacht hatte und der Handschuh des Gegners klatschte ohne jede Wirkung gegen meinen Körperschutz. Manfred war irgendwie frustriert und für einen Moment unaufmerksam. Ich täuschte mit der Linken einen Schlag auf seine Brust an. Manni ließ seine Arme und Hände etwas sinken und das war meine Chance. Mit der Rechten schlug ich voll zu, und zwar dahin, wo Old Shatterhand, wie ich bei Karl May gelesen hatte, seine Faust krachen ließ: An die linke Schläfe. Manfred schaute zuerst ungläubig, verdrehte dann die Augen und sank mit irgendwie bleichem Gesicht zu Boden Die Klasse johlte. Doch Herr Th. stürzte herbei, fing Manfred auf und schrie mich an. „Bist du denn verrückt geworden!“ Dabei hatte ich doch nur umgesetzt, was er uns als Lehrer zuvor gezeigt hatte. Die Klasse wurde ganz still. Anstatt nun Manfred anzuzählen, brach Herr Thomsen nicht nur diesen Kampf, sondern das ganze Boxprogramm für alle Zeiten ab.
Nun war wieder Reck mit Eiereinklemmen dran. Jedenfalls im Winter und für mich. Ich hatte selbst Schuld. Auch wenn Herr Th. mich angeschrien hatte, so wusste ich doch, dass er mich für meinen Boxeinsatz anerkennend lobte. Ich sah es in seinen Augen. Leider haben mich meine späteren Kumpels verführt, noch mehr zu rauchen und auch zu saufen. So brauchte ich für die 100 Meter 20,6 Sekunden, die 1000 Meter schaffte ich erst gar nicht und im Fußballtor wurde ich vom schwarzen Panther zum fliegenden Schwein - und Jahre später schlug mir mein damals zehnjähriger jüngster Sohn beim Boxen dermaßen eine auf die Zwölf, dass ich taumelte und die Zimmerpalme mit mir zu Boden riss. Das Boxen liegt uns eben in den Genen. Doch statt Boxer wurde ich Finanzbeamter, 'Rockstar', Pastor und Sozialbetreuer für Flüchtlinge - und das ohne Abitur - auch nicht schlecht, oder?
👉Die Gitarre meiner Schwester und die Folgen für mich (c)
An Weihnachten 1963 bekam meine Schwester Martina eine Gitarre zu Weihnachten geschenkt. Diese war von „Quelle“ und hatte 49 Mark gekostet. Da, wo nach der Bismarckstrasse die Michaelisallee beginnt, wohnte die Gitarrenlehrerin und Martina ging jede Woche zum Unterricht hin. Sie spielte uns dann zu Hause immer was vor. Ich hatte für so was keinen Sinn, sondern spielte draußen lieber mit meinem Freund Thomas Winnetou und Old Shatterhand. Doch nach einem halben Jahr hatte meine Schwester keine Lust mehr auf Gitarre und an einem grauen und verregneten Herbstnachmittag schnappte ich mir das Instrument, das an der Wand im Wohnzimmer hing, und schrammelte darauf herum. Irgendwann spielte und sang ich mein erstes Friedenslied, gezupft auf den oberen beiden Basssaiten. Es bestand aus vier Tönen und ich war damals 13 Jahre alt. Ich suchte mir in verschiedenen Jugendzeitschriften Anleitungen zum Gitarre spielen und Akkorde heraus und wurde immer besser. Bald schon konnte ich „Wir lagen vor Madagaskar“ und so was spielen und Ende der 1960er Jahre spielte ich schon „Marmor, Stein und Eisen bricht“ von Drafi Deutscher und „Yummy, Yummy“ von Ohio Express (Bubble Gum Music).
Auch Thomas, mein bester Freund, hatte Gitarre gelernt. Und als dann eines Tages mein Schulkamerad Volker mit seiner roten E-Gitarre in den Musikunterricht kam, war es klar: Wir gründen eine Band. Und Volker hatte auch schon einen Namen: „Trepple Trellis Tristle“ (dreifaches Gittergestell). Daraus wurde ein Jahr später „Menetekel“ – auch von Volker so benannt. Jedenfalls waren wir verrückt. Wir wollten tatsächlich, so wie damals Hermann Greve (der viel zu früh gestorben ist) mit seiner Band „The Gourmands“, öffentlich auftreten. Also fingen wir an zu proben. Das taten wir im alten katholischen Pfarrhaus im Lollfuss 61. Zwar hatten wir Gitarren, auch Elektrische, aber keine Verstärker. Also fragten wir den alten Hausmeister aus dem Dachgeschoss, ob er uns mal für zwei Stunden sein Radio leihen würde. Er tat es bereitwillig. Und tatsächlich ließen sich zwei der Gitarren an den großen, alten Kasten anschließen (Bananenstecker). Es funktionierte und wir übten „Days“ von den Kinks. Das nächste Stück sollte „Do it again“ von den Beach Boys sein. Doch beim dritten Anschlag des Anfangakkords gaben die leuchtenden Röhren im Radio ihren Geist auf und es war still. Das Radio war hin und wir schlichen mit dem kaputten Teil hoch zum Hausmeister. Da wir aber bereits kommende Woche öffentlich auftreten wollten, ließ sich der alte Herr breitschlagen, uns auch noch sein zweites, moderneres Radio zu geben. Es hielt zwanzig Minuten, dann war auch dieses während „On the road again“ von Canned Head zur Totalreparatur fällig geworden.
Jedenfalls standen wir eine Woche später vor etwa 50 jungen Leuten, um unser erstes Konzert zugeben. Es war die ultimative Katastrophe. Dem Leser ist sicher aufgefallen, dass nie von einem Schlagzeuger die Rede war. Genau der fehlte uns. Wolfram, der zu unserer Clique gehörte, hatte behauptet, schon mal in einer Band Schlagzeug gespielt zu haben. Wir glaubten ihm, ohne dass er mit uns proben oder uns vorspielen musste. Für 20 Mark liehen wir uns also ein so richtig großes Schlagzeug, hinter dem nun Wolfram saß. Das erste Lied, das wir spielen wollten, war dieses „Yummy, Yummy“ in E-Dur. Ich schlug die ersten Töne an und die tiefe E-Saite riss mir weg. Ich spielte weiter und die A-Saite war hinüber. Wolfram, der behauptet hatte, er wäre am Drum-Set so eine Art Profi, schlug mit den Stöcken auf den Trommeln herum, wie ein Dreijähriger auf Kochtöpfen und spielte dabei auch noch ungewollte Synkopen. Die Schläge auf das Crashbecken kamen völlig unkontrolliert und die Fußpauke hämmerte ununterbrochen in Achtelschlägen, was uns völlig aus der Bahn warf. Wie wir dieses „Konzert“ (wörtlich eigentlich = Übereinstimmung) überstanden haben, weiß ich nicht mehr, das habe ich wahrscheinlich vollkommen verdrängt. Jedenfalls schmissen wir Wolfram sofort noch am gleichen Tag aus der Band und ich beschloss, da wir mit Thomas und Volker schon zwei Gitarristen hatten, mich als Schlagzeuger umzuschulen. Und so kam es auch.
👉13 Pferde und ein halbes (und ich) machen Schleswig (Holstein) unsicher (c)
1971 machte ich meinen Führerschein für 575 Mark bei einer Fahrschule in der Schubystrasse, Ecke Feldstrasse, schräg gegenüber vom damaligen „Scotch Club“. Eine Kollegin vom Finanzamt verkaufte mir ihren alten Fiat 500. Er kostete mich 400 Mark. Der rot lackierte Fiat hatte ein schwarzes Faltschiebedach, musste mit Zwischengas gefahren werden, 479 cm³ Hubraum, hatte einen Anlasser (nix mit Zündschlüssel) und immerhin 13,5 PS. Harro, der mit mir in der Ausbildung war und ich, fuhren am selben Tag zur Kreisbehörde, um das Auto auf meinen Namen umzumelden. Wir fuhren also die Flensburger Strasse hoch und mussten dann links zur Zulassungsstelle abbiegen. Von oben her kam uns ein Lastwagen entgegen und so tat ich, was ich bei Herrn M. gelernt hatte: Ich lenkte den Wagen zur Mitte der Strasse und blieb stehen, um den Gegenverkehr passieren zu lassen. Der LKW kam bedrohlich näher und Harro meinte, ich würde viel zu sehr in der Mitte stehen (also schon halb auf der linken Fahrbahn) und bekam die Panik. Der Lastwagen war nur noch acht Meter entfernt. Da riss Harro seine Beifahrertür auf und wollte aus dem Fiat springen. „Nicht mit mir!“ schrie er. In dem Moment rauschte der Laster an meiner Scheibe vorbei und der kleine Außenspiegel zitterte beängstigend. Harro hatte seinen rechten Fuß schon auf der Strasse gehabt, zog ihn nun zurück und meinte: „Ne, mit Dir fahr ich nie wieder.“ -
Dafür aber Thomas, mein bester Freund. Das war ein paar Tage später. Wir fuhren auf der B 76 an Fahrdorf vorbei Richtung Eckernförde. Unser Ziel war die alte Ziegelei bei Borgwedel, direkt an der Schlei. Vor zwölf Jahren hatten wir hier mal mit PeMo (Peter M.) von der katholischen Jugendgruppe Schleswig gezeltet und wollten uns nun, wo wir "Männer" im Alter von 20 und 19 Jahren waren, noch mal alles anschauen, ob es die Ziegelei noch gibt und so. Wir düsten mit 85 kmh (Höchstgeschwindigkeit) also Richtung Süd-Ost, nachdem wir an Fahrdorf vorbei waren. Immer hielten wir Ausschau nach dem Schild „Borgwedel“. Plötzlich schrie Thomas: „Hier, hier musst du abbiegen!“ Tatsächlich, da ging’s runter nach Borgwedel. Ich riss das Steuer nach links herum. Der Wagen kam ins Schleudern und natürlich schaffte ich die Kurve nicht ganz. Das Hinterteil krachte in den gegenüberliegenden Weidezaun und der Fiat blieb nach wenigen Metern stehen. Wir sprangen aus dem Wagen und mussten feststellen, dass der rechte hintere Kotflügel ziemlich eingedellt war. Der demolierte und zersplitterte Zaun mit dem gerissenen Stacheldraht war uns egal. Und ich hatte das Auto erst ein paar Tage! Ich habe diese ziemliche Beule nie reparieren lassen, sondern mit grauer Lackfarbe drübergeschrieben: „Na und!“
Ein paar Monate später fuhr ich diese Strecke einmal wöchentlich, dann aber bis Malente, wo der Abschlusslehrgang für werdende Finanzbeamte stattfand. Ich nahm dann immer Gert mit, meine treuen Gefährte seit der 5. Klasse der Bruno-Lorenzen-Schule. Nun machten wir zusammen Beamtenkarriere. In Malente waren wir oft auch in den Kneipen unterwegs. Als ich eines abends, nach ein paar Colas :) (alkoholfreies Bier war noch nicht) meinen abgestellten Fiat suchte, war er weg. Gestohlen! So ein Mist! Doch meine Kumpels konnten sich vor Lachen nicht halten, während ich nach der Polizei schrie. Dann entdeckte ich meinen geliebten kleinen Wagen 20 Meter weiter. Wie war er dahin gekommen? Merkwürdig. „Nun ja,“ meinte einer der Jungs. "Wir haben ihn zu viert kurzerhand dahingetragen, als du mal auf dem WC warst". 470 Kilogramm mit vier Mann: Ganz schöne Leistung. Ein halbes Jahr später habe ich den Fiat gegen einen roten Opel Kadett Coupé eingetauscht, mit dem Thomas und ich zu den Olympischen Spielen nach München und dann an den Achensee (Österreich) fuhren. Also, wir waren drei Tage v o r Eröffnung der Spiele dort und haben von dem Terroranschlag auf die Israelis in der österreichischen Ausgabe der BILD erfahren. Schlimme Sache!
- Meine erste Liebe: Fiat 500, Baujahr 1959, 479 cm³, 13,5 PS, Höchstgeschwindigkeit: 85 km/h, Zweizylinder-Heckmotor, nicht-synchronisiertes Getriebe (Zwischengas beim Schalten), Gewicht 470 KG, Kaufpreis: 400 Mark. Auf dem Finanzamt verdiente ich bereits im 1. Lehrjahr 419 Mark. Das war unglaublich viel damals.
👉Vom Panzer und verkappten Wehrdienstverweigerern, oder: Alpha, Beta, Charlie … (c)
Als die Herren Chrutschow und Kennedy gerade noch den 3. Weltkrieg verhindern konnten (Kubakrise 1962), beschlossen die Jungs vom Kieler Innenministerium, unter das „Martin-Luther-Krankenhaus“ in Schleswig in der Moltkestrasse,, einen Atombunker als Notkrankenhaus zu bauen. Von dem erfuhr ich erst 1972. Und das kam so. Ich war, gemeinsam mit Freund Gert auf der Finanzschule zum Abschlusslehrgang in Malente. Das war im Winter 1971/72. Am Wochenende fuhren wir immer mit meinem roten Fiat 500 (noch mit Zwischengas und Extra-Anlasser) nach Schleswig zurück. Der Fiat hatte ein schwarzes Stoffschiebedach und ich hatte es geschafft, den Wagen im 3. Gang so hoch zu jagen, dass der Zylinderkopf durchbrannte. Zwar versuchte ich immer wieder, das Loch mit Asbestschnüren abzudichten, aber meist hielt das nur bis Haddeby oder bis zur Abfahrt Borgwedel. Der Motor war so laut, dass man mir in Malente verbot, das Auto auf dem Schulgelände zu parken. In der Tat, ein Panzer war nichts dagegen.
Als ich eines Wochenendes – ich wohnte noch bei meinen Eltern, jetzt im Seekamp, Sankt Jürgen – nach Hause kam, fand ich einen Brief vom Kreiswehrersatzamt Schleswig vor: Einberufung zum 1. April. Sch …! Und wir hatten jetzt schon Ende Januar. Was tun? Der Tip(p) kam von Gert. „Geh doch, so wie ich zum Luftschutz. Da musst du dich für zehn Jahre verpflichten, aber du brauchst nicht zum Bund. Jede Woche eine Übung am Abend, das ist alles.“ Gesagt getan. Ich nahm Kontakt zu Herrn R., der im Kolonnenweg wohnte auf und verpflichtete mich bis 1982 für diesen irgendwie mysteriösen Verein. Im April ging’s für mich los. Wir trafen uns auf dem Parkplatz des Kreiskrankenhauses. Einige waren langhaarig und bärtig, verwegen schauend, andere harmlose Milchbubis, Warmduscher, Drückeberger und Schattenparker. Mancher war eventuell tatsächlich Pazifist, aber das wusste niemand so genau. Keiner wollte Soldat werden, hatte aber auch keine Lust, offizieller Wehrdienstverweigerer zu sein, denn vor einer Frage des Komitees fürchteten sich alle: „Was würden Sie tun, wenn Ihre Familie von den Russen mit Maschinengewehren angegriffen wird, würden Sie dann zur Waffe greifen?“ Herr R. und sein Sozi, Herr B., führten uns in den Keller des Funktionsbaus. Dort gab es eine Stahltür, hinter der es noch einmal eine Treppe tiefer ging – eine ziemlich lange und echt abgründige Treppe. Die Wände waren nur grob, oder gar nicht verputzt. Am Ende eines der vielen Gänge lag die sogenannte „Leitmessstelle 12“, die zum „Warnamt 1“ in Hohenweststedt gehörte. Zwei Räume, in denen Telefone aus dem 2. Weltkrieg standen, wo man noch kurbeln musste und direkte Verbindung nach Hohenweststedt bekam. So langsam kriegte ich mit, was hier gespielt wurde. Vom Warnamt bekamen wir Anrufe, wann und wo in Deutschland und vor allem in Schleswig-Holstein von den Russen Atombomben abgeworfen worden waren. Unsere Aufgabe war es nun, anhand der aktuellen Wetterlage und Höhenwinde, den sogenannten Fallout zu berechnen, heißt, welche Gebiete radioaktiv verseucht werden würden und wie lange es dauern würde, bis die Leute sich irgendwie in „Sicherheit“ bringen konnten.
Je nachdem, wie unsere Berechnungen ausgingen, lösten wir dann die Sirenen auf den Dächern der offiziellen und teilweise privaten Gebäude aus. Natürlich nicht wirklich, sondern nur fiktiv. Ganz wichtig war es dabei, das NATO-Alphabet auswendig zu können, damit es keine Missverständnisse gab und die Russen, die uns natürlich abhörten, irritiert waren: Alpha – Bravo – Charlie – Delta – Echo – Foxtrott. Neben diesen Kriegsspielen, klopften wir auch Skat, spielten Bingo, wobei wir ordentlich Korn tranken und damit der nicht so anschlug, kauten wir dazu fetten Speck, den Herr B. spendete. Und wir erzählten uns Witze. Der Jüngste in unserem Bunkertrupp war 17 Jahre alt und brauchte auch nicht zur Musterung, weil ich ihm in der „Eiche“ im Schleswiger Stadtweg (gibt’s heute nicht mehr, Olaf Petersen, jetzt „Ruhekrug“) bei einem Bier den entsprechende Tip(p) gegeben hatte. Übrigens durfte ich bereits 1980 (also zwei Jahre früher) die Leitmessstelle für immer verlassen. Denn in jenem Jahr - ich war inzwischen verheiratet - begann ich im Oberbergischen Land, nahe der Handballstadt Gummersbach - mein Theologiestudium. Und das ist auch eine andere Geschichte wert.
👉 Eine traurige und doch Wunder-volle Geschichte. (c)
Es war Ende der 1950er Jahre und wir wohnten immer noch in Schleswig im Friedrichsberg. Ich hatte mit den beiden Heitmann-Schwestern von Gegenüber gespielt. Und da es Abend wurde, musste ich nach Hause. Die Böschung hinunter, hatte ich nur ein Ziel m Auge. Doch ich kam nicht weit. Denn kaum war ich über den Bordstein, erfasste mich der Außenspiegel eines VW-Käfers, der gerade aus Richtung des Friedhofs kam mit solcher Wucht, dass meine rechte Wange und Stirn über dem Auge aufgerissen wurden und ich mit dem Hinterkopf auf die Strasse knallte. Meine kleine Schwester Martina kam in die Küche gerannt und schrie. „Stefan ist tot! Stefan ist tot.“ Meine Eltern stürmten nach draußen. Dort lag ich tatsächlich wie tot. Das Gesicht bleich und blutüberströmt. Daneben der total erschrockene und zitternde Autofahrer. Das Erste, was mein Vater tat war, dass er diesem armen Mann dermaßen eine ins Gesicht scheuerte, dass er später dafür zu einer Geldstrafe von 120 Mark verurteilt wurde. Da meine Eltern das Geld dafür aber nicht hatten, erlaubte der Richter unserem Vater, diese Strafe in entsprechenden Kilos von Kaffe abzubezahlen (mein Vater war Handelsreisender für Kaffee, Tee und Kakao). Krankenwagen, Krankenhaus und der Priester. Meine Eltern und auch die Ärzte glaubten nicht so recht, dass ich wieder aufwachen würde. Pfarrer Heumann (wir waren katholisch, was damals in SL eine Seltenheit war = Diaspora) gab mir die „Letzte Ölung“, das Sterbesakrament der katholischen Kirche. Es vergingen drei Tage und ich lag immer noch wie tot. All das, was ich bisher berichtet habe, weiß ich nur durch Erzählungen meiner Eltern und Geschwister. Ich selbst erinnere mich bis heute an absolut nichts. Auch nichtt an das genaue Jahr. Nur dieses: Ich schlug wie jeden Morgen die Augen auf und wollte zur Schule (Bugenhagenschule) aufstehen. Doch in meinem Kopf war es wie das Summen und Brummen von tausend Hummeln. Mir war total schwindelig. Und merkwürdig, die Zimmerdecke war doppelt so hoch wie sonst, das Fenster riesig und links neben mir stand ein Bett auf Rädern und ein mir unbekannter Junge lag darin. Die Nachricht, dass ich tatsächlich wieder aufgewacht sei, erreichte nicht nur meine Eltern, die sofort kamen, sondern auch Herrn Wagner von der Polizei. Als dieser mich zu dem Unfallhergang befragte und befragte, fing ich an zu heulen, denn ich konnte mich ja an nichts erinnern, was mir aber der Polizist irgendwie nicht glauben wollte. Jedenfalls: Ich war tot und nun lebte ich wieder, bis heute. Ich glaube an Wunder … Der VW-Fahrer war übrigens der Sohn des Hausmeisters vom katholischen Pfarrhaus im Lollfuss, Ecke Guttenbergstrasse (damals noch das alte Gebäude mit angrenzender Kneipe) und er arbeitete bei der GEWOBA. Als ich nach sechs Wochen aus dem Krankenhaus entlassen wurde, ging meine Mutter demonstrativ mit mir durch die Siedlung, um allen zu zeigen, dass es mich noch bzw. wieder gibt. In der Folge brachte ich jede Woche ein Pfund Bremer Kaffee in das Büro meines Unfallgegners, bis die Ohrfeige meines Vaters abbezahlt war. Meine Eltern hätten auch Andreas (Dalle), meinen älteren Bruder, schicken können. Doch ganz bewusst ließen sie mich dies tun: Therapie für den Herrn von der GEWOBA und vor allem für mich.
👉Dänische Erfindung als Erinnerungshilfe (c)
In einer meiner vorherigen Geschichten berichtete ich davon, wie ich als Kind in einen Autounfall verwickelt wurde und ich in einem mir unbekannten Zimmer aufwachte. Erst nach und nach offenbarte sich mir, wo ich war: Die Räder am Bett meines Nachbarn, Frauen mit grauen Kitteln und Männer, ganz in Weiß gekleidet. Ärzte und Krankenschwestern. Letztere versuchten, mir immer wieder Blut abzunehmen, was sie aber in den ganzen sechs Wochen meines Klinikaufenthaltes nicht schafften. Auch den Doktoren gelang es nicht, mir eine Kanüle in den Arm zu stecken. Ich machte jedes Mal einen Riesenaufstand, denn ich hatte eine unglaubliche Angst vor diesem Prozedere, obwohl mir noch nie zuvor Blut abgenommen worden war. An den Namen des Jungen neben mir kann ich mich nicht mehr erinnern. Dafür aber um so mehr an das, was ihm seine Eltern bei ihrem wöchentlichen Besuch mitbrachten. Es war ein kleiner Karton. Der Junge, ich nenne ihn einfach mal Erik, öffnete die Schachtel und brachte kleine Plastiksteine hervor, in Weiß und Rot. Jeder dieser Steine hatte oben Noppen, manche vier, andere sechs, oder nur zwei und man konnte die Steine aufeinander stecken und Mauern daraus bauen. Das war jede Woche so und in den Schachteln waren neben den Steinen dann auch Fenster oder Türen, oder durchsichtige Steine. Nie zuvor hatte ich so was gesehen. Konnte ich ja auch gar nicht, denn diese Plastikdinger wurden gerade mal zuvor ganz neu in Dänemark in dieser Form erfunden und patentiert, wie Eriks Vater einmal meinte. Und sie waren bestimmt sauteuer. Wie bescheiden waren da die Mitbringsel meines Vaters. Er kam zwar zwei- oder gar dreimal in der Woche. Dafür bekam ich aber jedes Mal nur eine Stange Sahnebonbons (Sahnebonschas), fünf Stück für zehn Pfennige. Mein Vater als fliegender Händler verkaufte neben Kaffe und Tee auch solche Sachen. Mit Legosteinen fing ich erst in den 1980er Jahren an zu spielen – mit unseren beiden kleinen Kindern.
Einer von uns muss zum Friseur. (c)
Als ich 1970 die Einjährige Höhere Handelschule (HH, in der oberen Flensburger Strasse) abgeschlossen hatte, bewarb ich mich beim Schleswiger Finanzamt für die Mittlere Laufbahn. Tatsächlich wurde ich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Bewerber gab es nicht so viele, denn wir hatten damals mit 0,7 Prozent Arbeitslosen praktisch die Vollbeschäftigung in der BRD und Herr Schiller war Finanzminister. Na ja, meine Zeugnisse, besonders das der HH waren echt mies, denn damals hatte ich angefangen, rebellisch und faul zu werden und meine Haare ein wenig über die Ohren wachsen zu lassen. Für einen zukünftigen Beamten nicht gerade vorteilhaft. Dann, so gegen Ende des Vorstellungsgespräches, fragte mich der Personalleiter, warum ich denn überhaupt ausgerechnet Finanzbeamter werden möchte. Meine Antwort: „Nun, Steuern wird es immer geben.“ Sein Unterkiefer fiel etwas herab und seine Augen glänzten irgendwie merkwürdig. Nach fünf gefühlten Sekunden streckte mir der Personalleiter die Hand entgegen und sagte: „Herr Weinert, Sie haben den Ausbildungsplatz.“ Am 1. August 1970 ging es los. Da ich seit einem Jahr auch noch in der Rockband „Menetekel“ Schlagzeug spielte, ließ ich mir die Haare ungezügelt weiter wachsen. Eines Tages, am Beginn des zweiten Ausbildungsjahres, kam der Personalleiter zu mir ins Büro, starrte mich an und meinte. „Herr Weinert, ich glaub, einer von uns beiden muss mal zum Friseur." Ich bin nicht immer schlagfertig, aber diesmal war ich es und entgegnete ihm: „Ja, nämlich Sie!“ Dass ich keinen Eintrag in die Personalakte bekam, lag wohl nur daran, dass der Personalleiter meinen Vater kannte und er, wie auch ich, katholisch waren, vermute ich mal. Jedenfalls ließ ich mir die Haare noch neun Jahre lang weiter wachsen und erst dann kürzte ich sie sukzessive. Und das kam so: --- 1976 zog ich nach Flensburg in eine Dreier-WG, ein Pärchen und ich. 1977 zog die Freundin meines besten Kumpels aus (sie hatten "Schluss" gemacht), und und eine uns bekannte Dame übernahm das Zimmer. Inzwischen hatte ich beim Finanzamt gekündigt und war arbeitslos (Arbeitslosenquote stieg also leicht), denn mir war klar geworden, mein Leben dafür einzusetzen, Menschen etwas zu geben und nicht, um ihnen was wegzunehmen. Ich verliebte mich in die junge hübsche Frau, sie sich aber nicht in mich. Ich ließ nicht locker und auf einer Party in unserer WG erzählte ich ihr nach zwei Gläsern Rotwein eine ausgedachte, romantische Geschichte, die sie dazu veranlasste mich einfach zu küssen – so richtig mit Zunge und so. Zwei Jahre später hat sie mich geheiratet und die Kinder der Kirchengemeinde, zu der wir gehörten, hatten mir schon Wochen vorher immer wieder gesagt: „Stefan, zur Hochzeit musst du deine Haare aber abschneiden.“ Und auch ein paar Erwachsene meinten das. Also tat ich ihnen den Gefallen. Inzwischen waren mir meine schönen schwarzen Haare bis zu den sehr männlichen :) Brustwarzen gegangen - und nun ließ ich sie auf Schulterhöhe kürzen. Dass sie bald „normale“ Länge haben würden, ist eine andere Geschichte.