Dialog oder Projektion?
Stefan Weinert
Wir Menschen leben davon, dass wir uns mit unseren Mitmenschen (Plural) oder unserem Mitmenschen (Singular) verbal austauschen können. Wem das Reden verboten ist, wird irgendwann "sterben". Manchmal reicht aber auch schon ein nonverbales "Wort" = ein Lächeln, ein freundlicher Blick für den/die andere/n, damit diese/r den Tag überstehen kann.
Im Folgenden geht der Focus auf den verbalen Austausch - gemeint ist die Diskussion und/oder Diskurs - mit einem (1) Gesprächspartner oder in einer kleineren Gruppe. Die Frage die mich bewegt ist die: Handelt es sich bei einem solchen verbalen Austausch um einen wirklichen Dialog, um einen Gedankenaustausch auf Augenhöhe, ein Gespräch mit offenem Ausgang, oder sind es lediglich manchmal oder auch des Öfteren eigentlich eher "Projektionen" des/der Einen auf den/die Gegenüber, die hier zum Tragen kommen?
Bei den so genannten "Projektion", wie Sigmund Freud sie bereits vor 110 Jahren nannte - geht es darum, dass der Kommunikationsteilnehmer A seine innerpsychische Schieflagen auf sein Gegenüber, den Kommunikationsteilnehmer B überträgt. Dabei tut er/sie es jedoch unbewusst, ansonsten er/sie ihre eigene "Schuld" ja eingestehen würden. So aber reagieren er/sie sich an unschuldigen Opfern ab.
Das können durchaus auch "tote" Objekte sein, die auf einmal zum Leben erweckt werden, oder auch Umstände, wie zum Beispiel das Wetter. Ein Rückfall in den Infantilismus (blöder Tisch, an dem ich mich gestoßen habe; das alles liegt nur am blöden Wetter ...). Dieser Abwehrmechanismus der Projektion wird entweder reflexartig im Affekt angewendet (wenn man kritisiert und hinterfragt, also „angegriffen“ wird und das nicht ertragen kann), aber durchaus determiniert, weil dieser Mechanismus bereits fester Bestandteil der Persönlichkeit und des Charakters geworden ist.
Im letzteren Fall kann es dann auch zur pathologischen Derealisierung kommen, bei der die Umwelt und die eigene Person abnorm und verfremdet wahrgenommen werden (siehe auch Paranoia). Als Adolf Hitler bei Kriegsbeginn am 1. September 1939 sagte: „Ab 5:45 Uhr wird zurückgeschossen,“ da hat er selbst und mit ihm ganz Deutschland geglaubt, dass es tatsächlich die Polen waren, die die erste Salve abgegeben hatten. Derealisation ist das "Für wahr halten" einer Tatsache, die nachgewiesen keine ist.
Wer seine psychischen Probleme, seelischen Schmerzen oder psychischen Schieflagen auf eigentlich unschuldige Objekte überträgt tut das nicht nur, um sein Gegenüber und/oder Gegenspieler (wie gesagt unbewusst) so zu färben und zu entstellen, dass diese/r auf jeden Fall schlechter abschneidet, als man/frau selbst. Da wäre zu oberflächlich. Bei der Projektion geht es auch darum, seinen Selbstwert und sein Image zu schützen, anstatt die intellektuelle Ich-Leistung von guten und seriösen Argumenten aufzubringen.
Bei der Projektion handelt es sich um ein früh- infantiles Verhaltensmuster (Kindheits-Ich), das zum Zeitpunkt der Kindheit noch normal ist. Bei einem eigentlich aus der Kindheit "er-wachsenen" Individuum aber ist es ein Nachhinken im Reifungsprozess, und ist Zeichen von Kritikunfähigkeit. Die Ausschaltung der kritischen Ich-Leistung (= Intelligenz) ist nicht unbedingt mit Dummheit zu bezeichnen, sondern sie ist oft auch das Ergebnis gesellschaftlichen Zwanges.
Bei der Projektion geht es um das Verschieben der inneren Unlust, der inneren Disharmonie, des Schuldgefühls und schuldig geworden Seins --- weg von sich auf eben andere (wenn es sein muss, auch auf "Gott" [Adam und Eva]), um einer Strafe und vor allem, einem Angriff von Innen zu entgehen. Alle sind schuld, nur "ICH" nicht; alle haben versagt, nur "EGO" nicht.
Das geht so durch die gesamte Entwicklungszeit des Individuums (Ontogenese) und der gesamten Menschheitsgeschichte (Phylogenese), die wohl auch diesbezüglich bis heute in vielen Bereichen in den Kinderschuhen stecken geblieben ist, wenn Gesellschaftsschichten, Parteien oder ganze Völker durch ihre führenden Politiker die Schuld immer nur bei den anderen sehen. Siehe den Konflikt Russland/Ukraine und die Auseinandersetzung Hamas/Israel.
Doch was ist eigentlich der tiefere Grund für die Entstehung von "Projektionen", weg vom eigenen ICH, hin auf andere Menschen oder Gegenstände, Zustände? Warum verschieben wir von der Gattung homo sapiens unsere inneren Missstände nach Außen, so dass sie - aus der eigenen Sicht - keinesfalls mehr die eigenen, sondern die des anderen sind? Wie gesagt, projizieren wir nicht bewusst (siehe oben). Wer es bewusst tut, ist bösartig.
Sigmund Freud vergleicht an dieser Stelle den Menschen mit einer Blase, die durch den Äther schwebt. Die Blase ist nur deshalb eine solche, weil sie eine - zugegeben sehr dünne - Haut hat, die sie zusammenhält. Diese Haut schützt aber auch das Innere der Blase vor Angriffen, Bedrohungen und Schmerzhaftem von außen. Jedenfalls so gut, wie sie es kann. Dieses "Innere" ist die menschliche Seele, besser gesagt, die komplizierte inneren psychosomatische Verflechtung (psycho-somatisch).
Damit das Innere weitestgehend von diesen äußeren Unannehmlichkeiten geschützt ist, verhärtet die dünne Schale an manchen Stellen, stirbt ab zu anorganischem "Material" und wird damit scheinbar undurchdringlich. Somit wird der "Reizschutz" der dünnen Haut erhöht und filtert das für das Innere Unerträgliche aus. Freud schreibt dazu:
"Gegen außen gibt es diesen Reizschutz - die ankommenden Erregungsgrößen werden nur in verkleinertem Maßstab wirken; nach innen zu [Anmerkung: was von Innen kommt] ist der Reizschutz unmöglich, die Erregungen der tieferen Schichten setzen sich direkt und in unverringenderem Maße auf das System fort, in dem gewisse Charaktere ihres Ablaufs die Reihe der Lust-Unlustempfindungen erzeugen." ("Jenseits des Lustprinzips", Seite 34)
Was also liegt näher, um diesen inneren Angriffen zu entkommen, als sie nach "von Außen kommend" zu verlegen, denn diese sind ja (siehe oben) "abwehrbar". Dazu schreibt der große Psychoanalytiker das Folgende:
"Es wird sich die Neigung ergeben, sie so zu behandeln, als ob sie nicht von innen, sondern von außen her einwirken, um die Abwehrmittel des Reizschutzes gegen sie in Anwendung bringen zu können. Das ist die Herkunft der Projektion, der eine so große Rolle bei der Verursachung pathologischer Prozesse vorbehalten ist." (a.a.O., Seite 35)
Das erkannt zu haben, macht das infantile menschliche Wesen, zu einem menschlichen Individuum und zu einer Persönlichkeit, die Eigenverantwortung übernimmt, die Kritik ertragen, sondieren und ggfs. auch annehmen und umsetzen kann. Dann kann ein gesunder Gedankenaustausch stattfinden, eine wohlüberlegte und respektvolle = gesunde und reife Kommunikation auf Augenhöhe, mit einer gehörigen Portion von Selbstkritik und Kritikfähigkeit - mit "open end"!