Darf man/frau heute noch die "Wahrheit" sagen und authentisch sein, ohne vom Rest der Gesellschaft in eine bestimmte "Ecke" gestellt zu werden?
Von Stefan Weinert
Darf man/frau heute noch die "Wahrheit" sagen, sie beim Namen nennen, sie aussprechen, oder wird man/frau dann gleich vom Rest der Gesellschaft, die oft keine eigene Meinung hat, in eine bestimmte "Ecke" gestellt? Wenn ich hier den Begriff "Wahrheit" benutze, meine ich "Fakten und Tatsachen in differenzierter Weise". Aber auch das authentisch sein einer Person in dem Sinne, dass sie sagt und schreibt, was sie denkt und wovon sie überzeugt ist. Darf man/frau heute noch authentisch sein, oder gilt nur noch die uniformierte Meinung?
Wenn jemand kriminelle oder unmoralische Verhaltensweisen von Flüchtlingen aus seinem eigenen sozialen Umfeld anprangert, ist er dann gleich ein "Rechter"? Wenn jemand berechtigte Probleme mit der Coronapolitik der Regierung(en) hatte und heute noch hat, ist der dann gleich ein "Verschwörungsdenker"? Wenn jemand darüber aufklärt, dass es in der Ukraine tatsächlich rechtsnationale faschistische Kräfte bis in die höchsten Kreise gibt, ist er dann gleich ein Putinfreund und ein Demagoge? Wenn jemand Probleme mit Schwulen, Lesben und solchen Mitbürger/innen hat, die sich als "Divers" oder "Queer" sehen, ist er dann auch schon homophob, Faschist oder gar Nazi? Dürfen er und sie das offen sagen, oder gilt es, die Klappe zu halten?
Das Problem ist, so meine ich, dass wir es verlernt oder in der Kindheit und Jugend auch nie erlernt haben, zu differenzieren, bzw. uns keine Mühe geben, es zu tun. Schwarz oder weiß, heiß oder kalt, dafür oder dagegen, ja oder nein, Amnesty oder AfD, usw. Und das gilt in beide Richtungen und hat sehr viel damit zu tun, wie wir uns verbal oder schriftlich ausdrücken und ob wir genau zuhören und auch genau lesen. Eben ob wir aktiv und passiv differenzieren. Ich erlebe es in meinem Alltag leider manchmal schmerzlich, dass nicht differenziert gesprochen/geschrieben und nicht richtig zugehört/gelesen wird. Auch ich habe diese Fehler schon begangen.
Wie gesagt. Wer auf die faschistischen Kräfte in der Ukraine hinweist und seine Fahne nicht in den Wind stellt, wer den damaligen ukrainischen Botschafter als rechtsnational bezeichnete und den Respekt vor einem Präsidenten nicht an der Garderobe des Mobs abgegeben hat, der/die steht im Verdacht, ein/e ganz fiese/r und verschlagene/r Moskaufreund/in zu sein.
- Das Problem ist in der Tat, dass auch Wladimir Putin nicht differenziert und stattdessen pauschalisiert und mit diesem pauschalen Ergebnis, meint einen Krieg führen zu können. Die Ukraine ist kein faschistisches System obwohl es dort Faschisten gibt; das wäre (in dieser Denkweise) dann eher die BRD. Denn im ukrainischen Parlament sitzt kein einziger Faschist, während es in Berlin bald 100 sind. Bei den letzten Wahlen in der Ukraine erhielten die Faschisten rund 2,5 Prozent. In Deutschland waren es über zehn Prozent.
Wer Ohren hat, möge sie bitte gebrauchen. Und wer Augen hat, sollte sie bitte nicht verschließen oder mit Scheuklappen versehen. Und wer schreiben kann, der sollte es tun. Und solange wir noch die Freiheit dazu haben, sollten wir die Fakten und die Tatsachen und unsere eigene Meinung schreiben und sie nicht von anderen schreiben lassen - auch dann, wenn sie abwegig erscheint.
"Schreiben" leitet sich vom althochdeutschen "scriban" und von dem lateinischen "scribere" ab: Buchstaben in eine Tafel einritzen. Etwas unwiderruflich und für alle Zeiten festhalten. Wie damals die Keilschrift der Syrer, oder die Zeichenschrift der Pharaonen.
Niemand in diesem Land kann mich und uns zwingen alles das, was es an gesellschaftlichen Entwicklungen und individuellen Erscheinungen gibt, auch zu akzeptieren. Denn "akzeptieren" bedeutet, es "gut und richtig finden", "sich damit identifizieren. Aber ich sollte es als Demokrat und Humanist und aufgeklärter Mensch "respektieren" - was heißt, "es so stehen lassen, ohne zu verdammen". Kann jemand auch das nicht, dann bleibt noch das "Tolerieren" des anderen in seiner Andersartigkeit (anderes als ich), was soviel wie "stillschweigendes Dulden" bedeuten würde. Ablehnung kommt eigentlich nur dort in Frage, wo die Grenzen der Menschenwürde und die der Gesetzgebung überschritten werden.