"Auch Männer erleben Gewalt" - Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben
Quelle: Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben
Im Frühjahr 2020 ging das Hilfetelefon „Gewalt an Männern“ an den Start. Denn auch Männer erleben oder haben Gewalt erlebt – in ihrer Partnerschaft, auf der Straße, in Institutionen oder in ihrer Kindheit. Dass es die spezielle Anlaufstelle für gewaltbetroffene Männer gibt, begrüßt auch das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“. Laut seinem gesetzlichen Auftrag ist es auf die Beratung gewaltbetroffener Frauen spezialisiert und leitet ratsuchende Männer an die beratenden Fachkollegen des Männerhilfetelefons weiter. Im Interview spricht Andreas Haase, Mitbegründer des Männerhilfetelefons und Mitglied des Leitungsteams, über das Konzept, die Hintergründe und den Beratungsalltag beim Männerhilfetelefon.
Herr Haase, weshalb und von wem wurde das Hilfetelefon „Gewalt an Männern“ ins Leben gerufen?
Das nordrhein-westfälische Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung hatte 2019 eine Studie vorgestellt. In einer Hellfeldanalyse wurde untersucht, wie viele Männer von Gewalt betroffen sind und – vor allem – wohin sie sich wenden können. Ergebnis war, dass auf der Gewaltschutzseite für Frauen bereits gute Strukturen vorhaben waren, für Männer jedoch nicht. Die Mitarbeiter des Ministeriums traten daraufhin an unsere Bielefelder Männerberatungsstelle heran und baten uns, eine Idee zu entwickeln, wie gewaltbetroffene Männer niedrigschwellig und anonym über eine 0800-Nummer beraten werden können. Auf Basis unseres Konzepts ging dann alles recht schnell: Das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales kam als Partner dazu und seit letztem Jahr ist auch das baden-württembergische Ministerium für Soziales und Integration an Bord. Kurz gesagt: Das bundesweite Männerhilfetelefon wird von drei Landesregierungen und drei Projektträgern organisiert.
Wie ist das Angebot organisiert?
Wir sind insgesamt 15 Mitarbeiter, die verteilt über die drei Bundesländer montags bis donnerstags von 8 bis 20 Uhr und freitags von 8 bis 15 Uhr beraten – per Telefon unter der 0800 123 99 00, per E-Mail und Chat auf www.maennerhilfetelefon.de. Die Beratungen erfolgen vertraulich und auf Wunsch anonym. Kein Ratsuchender muss persönliche Details bekannt geben.
Wie sieht Ihr Beratungskonzept aus?
Unser Ziel ist es, gewaltbetroffenen Männern Impulse zu geben und zu klären, wo und wie sie am besten Unterstützung finden. Wir verstehen uns quasi als Clearingstelle, als ersten Anlaufpunkt, und schauen, was der individuelle Anrufer braucht: Trost, Zuspruch, Motivation, Empathie? Liegt eine Krisensituation vor? Gemeinsam überlegen wir dann, was erste Lösungsansätze sein könnten bzw. wie wir ihn motivieren, das ortsnahe Hilfesystem in Anspruch zu nehmen. Manchmal wollen sich Anrufer auch einfach nur entlasten und mit ihren Erfahrungen ernst genommen werden. Um so schnell wie möglich eine vertrauensvolle Gesprächsebene herzustellen, melden sich die Berater am Telefon mit ihrem Vornamen. Das baut Hemmschwellen ab, denn die meisten Männer gehen eher schüchtern in die Gespräche.
Inwieweit werden Ihre Beratungsleistungen von gewaltbetroffenen Männern angenommen, liegen Ihnen dazu Auswertungen vor?
Im Jahr 2021 haben wir insgesamt rund 3.100 Beratungen über die drei angebotenen Kommunikationswege durchgeführt. Unsere telefonische Auslastung liegt bei 50 Prozent der Sprechzeit – das sind im Durchschnitt etwa 25 bis 30 Minuten für ein bis zwei Gespräche in einer Stunde.
Berichten ratsuchende Männer auch, dass sie beispielsweise vom Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ an Sie verwiesen wurden?
Das kommt regelmäßig vor. Wenn man im Gespräch ist und fragt, wie sind Sie auf uns aufmerksam geworden, kommt häufig die Antwort: Ich habe beim Frauenhilfetelefon angerufen und die Beraterin hat mir geraten, mich bei Ihnen zu melden.
Melden sich auch Frauen bei Ihnen?
Ja, das sind jedoch meist Frauen aus dem sozialen Umfeld betroffener Männer, die eine enge Bindung zu ihnen haben – also Väter, Partner, Brüder, Söhne, weitere Verwandte oder Freunde. Die Frauen haben dann eine Art Doppelauftrag. Zum einen fragen sie, was der Betroffene konkret tun kann, zum anderen wollen sie wissen, wie sie selbst am besten mit der Situation umgehen und ihrem Angehörigen Hilfe bieten können. Solche Beratungen mache ich sehr gerne, weil dann für beide Blickwinkel gleichzeitig überlegt und Lösungen gefunden werden können.
Wie viele Menschen aus dem Umfeld gewaltbetroffener Männer und wie viele Fachkräfte beraten Sie?
Laut unserer Erhebung hat es von den insgesamt rund 3.100 Beratungen im Jahr 2021 zehn Prozent Gespräche mit Angehörigen gegeben. Fachkräfte beraten wir auch, für sie haben wir sogar separate Telefonsprechzeiten außerhalb des Hilfetelefons. Ihr Anteil liegt bei etwa 25 Prozent.
Mit welchen Anliegen wenden sich ratsuchende Männer überwiegend an Sie?
Die meisten Anrufer berichten von häuslicher Gewalt in Familiensituationen, die ganz unterschiedlich aussehen kann. Dazu gehört neben körperlicher vor allem psychische Gewalt durch Abwertungen, Beschimpfungen, Aussperren, Erpressung oder Drohung mit Entzug der Kinder. Außerdem melden sich viele Männer mit Missbrauchserfahrungen aus ihrer Kindheit, die teilweise schon Jahrzehnte zurückliegen. Grundsätzlich kommen alle Formen von Gewalt in unseren Beratungen vor – auch Mobbing, Zwangsheirat, Bedrohung durch Kriminelle oder sexualisierte Gewalt bei Jugendlichen.
Bevorzugen Männer die telefonische Beratung oder nutzen Sie eher die Online-Angebote?
Zirka 70 Prozent der betroffenen Männer bevorzugen die Telefonberatung, rund 25 Prozent melden sich per E-Mail und ungefähr drei bis fünf Prozent wollen mit uns chatten.
Suchen auch Männer Rat bei Ihnen, die selbst Gewalt ausüben bzw. ausgeübt haben?
Was diejenigen angeht, die als klassischer Täter verortet werden, in den seltensten Fällen. Allerdings passiert es, dass ein Mann wegen erlebter Partnerschaftsgewalt anruft und sich natürlich als Opfer fühlt. Aus dem Kontext heraus wird dann aber deutlich, dass auch er als Reaktion Gewalt angewendet hat – teilweise sind es schwierige, dynamische Gemengelagen in Paarkonflikten.
Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Unterschiede zum Beratungsangebot des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“?
Es ist gut, dass Frauen beim Frauenhilfetelefon und Männer beim Männerhilfetelefon anrufen können. Aber ich lege den Fokus ungern auf die Unterschiede, weil ich keine Stereotype bedienen möchte. Ich denke, wir beraten sehr ähnlich. Empowerment ist sicherlich etwas, das beim Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ zu den Beratungsgrundsätzen zählt. Natürlich beraten wir Männer, bei denen Empowerment auch eine wichtige Rolle spielt. Viele halten die Partnerschaftsgewalt jahrelang aus und melden sich erst zu einem sehr späten Zeitpunkt bei uns. Aber es gibt auch Männer, bei denen ich überhaupt nicht auf die Idee käme, sie „empowern“ zu wollen – einfach, weil es für sie nicht der richtige Ansatz ist. Da geht es dann eher um das kritische Hinterfragen der eigenen Verhaltensweisen, um beispielsweise nicht in eine Eskalationsspirale zu geraten.
Webseite des Männerhilfetelefons: www.maennerhilfetelefon.de