SPD-Bundesparteitag 1995: Wie Lafontaine mit seiner fulminanten Rede, Scharping im Regen stehen lässt ... Warum die 62 Prozent von damals (Oskar) doppelt soviel wiegen, wie Klingbeils 64?
Quelle: www.static.tu.berlin
Die Partei und ihre Delegierten auf dem Parteitag befanden sich aufgrund von scheinbar unüberwindbaren Problemen in Fragen ihrer Personalführung in einem Stimmungstief. Daran konnte Scharping mit seiner Eröffnungsrede nichts ändern, denn Scharping - so die einhellige Pressemeinung damals 1995 - ließ jene Inspiration vermissen, die die Delegierten in der schwierigen Lage der Partei erwarteten.
Am nächsten Tag veranlasste Oskar Lafontaine die Parteitagsdelegierten mit seiner Rede, die eigentlich nur die Anträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik begründen sollte, zu 62 Sekunden orkanartigen Beifalls. Oskar Lafontaine wurde daraufhin aufgefordert, zur Wahl des Parteivorsitzenden zu kandidieren, was überhaupt zunächst nicht vorgesehen war.
Die Parteisatzung wurde kurzfristig geändert, damit eine derartige Verfahrensweise überhaupt möglich war, und tatsächlich wurde Lafontaine mit 62,6 Prozent der Stimmen zum Vorsitzenden gewählt. Lafontaines Rede bezog ihre Wirkung nicht aus einem sehr originellen Inhalt, sondern einzig aus der Art des Vortrags und aus der Tatsache, dass sie auf ein ungeheures Bedürfnis der Delegierten nach Sinnstiftung, Führerschaft, Leidenschaft traf.
Das Ergebnis einer solchen Personenwahl - grundsätzlich und konkret das von 1995 - kann nicht Aufschluss geben über die inneren Beweggründe
für die Entscheidungen "JA - NEIN - ENTHALTUNG". Auch nicht über die Stimmungen und Gefühle von zuhörenden Delegierten, in welche diese durch die Reden versetzt wurden.
Nun haben im Nachgang zum Mannheimer SPD-Parteitag, Sprachwissenschaftler beide Reden - die von Scharping und jene von Lafontaine - dahingehend untersucht, wie sie jeweils auf Zuhörer wirken und sich auswirken. Dazu wurden Ausschnitte der von Rundfunk und Fernsehen aufgenommenen Reden beider Genossen ausgesuchten Probanden vorgespielt. Sie hatten einen Fragebogen mit dem sogenannten Polaritätsprofil mit je 7 Bewertungsmöglichkeiten (+3 bis -3) für jede zu bewertende folgende Dimension (siehe unten) auszufüllen. Die Dimensionen wurden überwiegend aus einem am Institut für Sprechwissenschaft und Phonetik in Halle entwickelten Polaritätsprofil zur Bewertung des Sprechausdrucks übernommen.
Dimensionen
- eindringlich-oberflächlich,
- überschwänglich-sachlich,
- unaufrichtig-aufrichtig,
- leidenschaftlich-leidenschaftslos,
- gleichgültig-engagiert,
- sicher-unsicher,
- ruhig-lebhaft,
- einfühlsam-distanziert,
- unangenehm-angenehm,
- abwechslungsreich-eintönig,
- verstandesmäßig wirksam-gefühlsmäßig wirksam,
- appellierend-feststellend,
- natürlich-unnatürlich,
- vertrauenswürdig-nicht vertrauenswürdig,
- spontan-aufgesagt,
- zu langsam-zu schnell.
Zusätzlich wurden auf einer 7stufigen Skala von sehr bis gar nicht die 6
Merkmale resigniert, traurig, enttäuscht, vorwurfsvoll, begeisternd und energisch
beurteilt.
Für das Hervorrufen der positiven Wirkung einer Rede sind vorrangig größere Lautheit, höherer Grundton, geringere Pausenzahl und höhere Wortzahl pro Zeiteinheit verantwortlich. Der Vergleich des Höreindrucks führt in drei von den genannten vier Merkmalen eindeutig zu der Erkenntnis: Lafontaine spricht lauter als Scharping, mit einem höheren Grundton und wesentlich schneller als Scharping.
Scharpings Stimme klingt sehr viel tiefer, gesetzter und vorsichtiger als die Stimme Lafontaines. Der Grundtenor - gemeint ist hier die Art der Stimmführung, nicht die der gewählten Worte - in den leiseren Passagen von Scharping erweckt den Eindruck von Resignation, Enttäuschung, Trauer, Verzweiflung, Leidenschaftslosigkeit bzw. in lauteren Passagen von Distanziertheit, künstlicher Aufregung und belehrendem Vorwurf.
Der Hörereindruck (Probanden) zeigt ganz deutlich, wie
Scharping angestrengt seine Aussagen klar machen will und dabei aber durch die
mehrmals sirenenhaft anschwellende Stimmführung oberlehrerhaft und anmaßend klingt. Scharping versucht, rhetorische Mittel bewusst stark zu nutzen,
die immer dann, wenn sie zu betont eingesetzt werden, unnatürlich und störend
für den Zuschauer wirken. Lafontaine dagegen klingt auf natürliche
Weise herausfordernd, so dass man ihm seine Entrüstung über das Gesagte
ohne weiteres abnimmt und versucht ist, sich ihm auf der Stelle anzuschließen.
Charakteristisch für Lafontaine war die Gliederung seiner Rede in kurze Passagen von etwa einer Minute Dauer, die in verhältnismäßig ruhiger
Sprechweise - mäßiges Tempo und normale Lautstärke - beginnen und dann
sowohl in der Lautstärke als auch in der Sprechgeschwindigkeit relativ schnell
anschwellen. Erstaunlich war dabei die Fähigkeit Lafontaines, den Anstieg der
Erregung bis zum Ende konstant durchzuhalten. Die Redeabschnitte bestehen in
der Regel aus zuerst einigen längeren Passagen (ungefähr 12 bis 17 Wörter).
Die dann folgenden Passagen werden zum Ende der Äußerung hin immer
kürzer, bestehen am Schluss nur noch aus ein oder zwei Wörtern, die dafür mit
ungewöhnlich starkem Druck artikuliert werden. Sehr oft enden die Rede
abschnitte mit der Floskel "liebe Genossinnen und Genossen" und werden durch
den Applaus der Delegierten gekrönt. Lafontaine platziert 17 von 25 der Anreden
"liebe Genossinnen und Genossen" am Satzende und benutzt sie so als
nachdrücklichen Abschluss einer Aussage und damit als Gliederungshilfe für den
Hörer. Scharping dagegen benutzte diese Floskel meist am Satzanfang oder
mitten im Satz, nur zweimal am Ende.
In Scharpings Rede war eine regelmäßige Struktur schwer zu finden. Häufig
stehen zwischen vielen aufeinanderfolgenden kurzen Phrasen (1 bis 10 Wörter)
plötzlich sehr lange Phrasen, die nicht selten mehr als 20 Wörter beinhalten.
Interessant ist, dass die Länge der Phrase bei Scharping mit der Sprechgeschwindigkeit positiv korreliert. Dies hat zur Folge, dass der Hörer hin und her
gestoßen wird in den unterschiedlichen Geschwindigkeiten, wobei er in den
kurzen, langsamen Phrasen unter- und in den langen, schnell über Punkt und
Komma hinweg gesprochenen Phrasen überfordert ist. Betrachtet man bei
Scharping die Lautstärke, so ist auch in diesem Punkt keine generelle Struktur zu
erkennen. Er wechselt ohne erkennbaren Zusammenhang von leisen Passagen,
die ungefähr drei Viertel der Gesamtrede ausmachen, zu lauten, erregten,
schreienden Passagen. Bei Lafontaine unterliegt die Steuerung der Lautstärke
beim Sprechen passend zum Inhalt einer Art Spannungsaufbau und der
Steigerung bis zum Finale.
Um eine Rede verständlich zu machen, ist es
hilfreich, den Hörern mitzuteilen, worüber man zu reden beabsichtigt.
Formulierungen wie "Ich werde zu drei Themen Stellung nehmen, einmal zu der
Frage...", "Zweitens...", "Und zum Dritten...", "Nun komme ich in ein paar
Bemerkungen noch zu...", "... ich möchte zum Schluss kommen..." erleichtern
Lafontaines Zuhörern die Orientierung. In Scharpings Rede kommt nicht eine
derartige Formulierung vor, so dass seine Zuhörer hoffnungslos umherirren in
der von ihm dargebotenen labyrinthischen Textstruktur.
Wesentlich bei den Untersuchungen war, dass Lafontaine hauptsächlich Sätze der erregten Art verwendet,
Scharping überwiegend die der ruhigen Art mit dazwischengeschobenen
energischen Phasen. Immer klingt bei Scharping in der Ruhe Resignation und in
der Erregung ohnmächtige Verzweiflung mit. Scharping spricht beispielsweise von Erfolgen der SPD, wird aber von den Hörern
eindeutig als resigniert, enttäuscht, traurig empfunden. Ursache dafür ist, dass
bei wertenden Sätzen die Tonhöhenvariation wesentlicher für die Bewertung der Hörer ist als der Inhalt der Sätze. So werden negative Sätze, wenn sie positiv
ausgesprochen werden, positiv beurteilt und umgekehrt.
In Summa:
1. Scharping verwendet gegensätzliche Sprechstile, Lafontaine hat einen charakteristischen Stil.
2. Scharpings Sprechstimmlage ist etwa 100 Hz tiefer als die von Lafontaine. Die hohe Stimmlage von 253 Hz bei Lafontaine ergibt sich hauptsächlich aus der überwiegend lauten, erregten Sprechweise, die häufig fast schon in Schreien übergeht.
3. Die durchschnittliche Tonhöhenschwankung (gemessen als Standardabweichung) beträgt bei Scharping 5,5 Halbtöne und bei Lafontaine 1,7 Halbtöne. Der Stimmumfang liegt bei Lafontaine konstant um 230 Hz und reicht bei Scharping von 130 Hz für ruhige bis 300 Hz für erregte Äußerungen.
4. Das Zeitsignal (bei den Vokalen) weist bei Scharping hohe Ähnlichkeit mit der Sinusschwingung auf (mit stark ausgeprägter Grundfrequenz und deutlich schwächeren Harmonischen), bei Lafontaine sind die Harmonischen im Verhältnis zur Grundfrequenz weniger gedämpft als bei Scharping, das Signal ist meist impulsförmig.
5. Das akustische Spektrum zeigt für Lafontaine im Frequenzbereich über 2,5 kHz deutlich höhere Energieanteile als für Scharping.
6. Silben werden von Scharping zu 39% mit fallender Grundfrequenz intoniert, nur zu 19% steigend und zu 11% steigend-fallend. Lafontaine verwendet zu 30% fallende, zu 25% steigende und zu 18% steigend fallende Grundfrequenzen. Satzakzent realisiert Scharping zu mehr als 90% durch steigende oder steigend-fallende Bewegung, bei Lafontaine verteilt sich die Verwendung der Bewegungen in allen Akzentstufen gleichmäßiger als bei Scharping.
7. Im Verlauf der Deklination innerhalb von Äußerungen sind für Lafontaine in ruhigen Passagen stärkere Regelmäßigkeiten zu finden. In erregten Passagen ergibt sich für Scharping ein enormer Anstieg, für Lafontaine dagegen ein leichter Abfall. Der Abstand der größten in einer Phrase auftretenden Frequenz von der Deklinationsgeraden ist bei Scharping sehr hoch und unregelmäßig, bei Lafontaine wesentlich geringer und zyklisch.
8. Der Sprechrhythmus Lafontaines ist deutlich durch das Prinzip der Isochronie (zeitlich von gleich langer Dauer) geprägt; der Rhythmus Scharpings kaum.
9. Die Dauer der Redeabschnitte ist im Durchschnitt bei Scharping 1,7 s länger, Pausen (zwischen Phrasen) sind durchschnittlich 0,45 s länger als bei Lafontaine. Der Wechsel aus Reden und Schweigen zeigt für Lafontaine eine in gewissen Grenzen regelmäßige und für Scharping mehr unregelmäßige Struktur.
10. Betonte Vokale sind bei Scharping deutlich länger als bei Lafontaine
(unter Berücksichtigung der schon unterschiedlichen Sprechgeschwindigkeit). Während satzakzentuierte Vokale bei Scharping durchschnittlich 170
ms dauern, sind es bei Lafontaine 130 ms. Bei Scharping werden Vokale
proportional mit steigendem Akzent länger, bei Lafontaine sind Wort- und
Satzakzent von etwa gleicher Dauer (hier wird der Satzakzent durch
Grundfrequenz- oder Lautstärkeänderung erzeugt); erst bei emphatischer
Überhöhung wird die Dauer des Vokals erhöht, aber weniger stark als bei
Scharping.
Literaturverzeichnis/Quellenangaben unter dem obigen Link