"Es wäre ein gefährlicher Trugschluss zu glauben, es könne sich nicht wiederholen." --> 27. April 1995: Bundespräsident Roman Herzog in seiner Rede in Bergen-Belsen
Bei meinen Recherchen zum "Zwangsarbeitslager Kloster Reute", wurde ich heute in der Nacht, respektive am sehr frühen Morgen (30. Januar 2025) mit der Gedenkrede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zur 50-jährigen Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen wachgehalten.
Diese Rede hielt Herzog im April 1995, und er sagte vor 30 Jahren unter anderem dies:
"Der Völkermord, den das nationalsozialistische Regime beging, war in seiner technischen und bürokratischen Perfektion so einzigartig und beispiellos, dass man glauben könnte, er könne sich nicht wiederholen. Aber das wäre ein gefährlicher Trugschluss. Es ist natürlich wahr, die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es kann neue Formen von Ausschluss und Gleichschaltung, von Selektion und Totalitarismus geben, die wir heute vielleicht noch nicht einmal ahnen. Also müssen wir wachsam bleiben. Dazu müssen wir uns erinnern. Nur wer sich erinnert, kann Gefahren für die Zukunft bannen."
Wir alle, die wir damals die Rede hörten (ich war zu dieser Zeit als Flüchtlingssozialarbeiter tätig) der sie lesen konnten und die wir heute noch leben, haben auf ihn der auch sagte "Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen" nicht gehört. Einige von uns vielleicht schon (!) - aber die Mehrheit der deutschen Bürger und Bürgerinnen und vor allem die uns repräsentierenden Politiker nicht.
Bei der letztgenannten Gruppe blieb es bei Worten und Enthüllungen von Gedenktafeln - meist (wie in der Provinzstadt Ravensburg, die nur 15 Kilometer vom Kloster Reute entfernt liegt) auch widerwillig oder (dito) in abstruser Weise vernachlässigt und offiziell abgelehnt. Da helfen auch 691 Glockenschläge und die Grauen Busse und die "Stolpersteine" nicht. Das alles sind Aktionen, die sich "gehören" - aber ohne Seele und ohne Leben.
Das Ergebnis dieses permanenten Weghörens sahen wir gestern (29. Januar 2025) im Deutschen Bundestag, dessen Plenarsaal und Lobby im Gebäude des immer noch so offiziell benannten "Reichstags" in Berlin beheimatet sind. Der Tag dort begann damit, dass man/frau mittags der Shoah gedachte und er endet damit, dass abends Nazis jubelten! Ein böses Omen?
Es ist so weit gekommen, dass aus dem "Wehrte den Anfängen" das "Verwehrt der AfD den Zugang zum Bundestag" geworden ist. Zur Erinnerung. Diese extremrechte und ideologische Nachfolgepartei der NSDAP konnte nur deshalb so stark werden, weil die angeblich demokratischen Parteien der Mitte statt echter Erinnerungskultur zu leben, ihre Macht gegenüber dem einfachen Bürger kultiviert haben, so dass auch diese eigentlich ebenfalls nicht wählbar sind.
Roman Herzog* 5. April 1934 --- † 10. Januar 2017
Bundespräsident Roman Herzog in seiner Rede am 27. April 1995 in Bergen-Belsen anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag der Befreiung aus den Konzentrationslagern.
»...Unsere Verantwortung ist es, ...nie mehr zu zulassen, dass Menschsein abhängig gemacht wird von Rasse oder Herkunft, von Überzeugung oder Glauben, von Gesundheit oder Leistungsfähigkeit. Nie mehr zuzulassen, dass unterschieden wird zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben... Der Völkermord, den das nationalsozialistische Regime beging, war in seiner technischen und bürokratischen Perfektion so einzigartig und beispiellos, dass man glauben könnte, er könne sich nicht wiederholen. Aber das wäre ein gefährlicher Trugschluß. Es ist natürlich wahr, die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es kann neue Formen von Ausschluß und Gleichschaltung, von Selektion und Totalitarismus geben, die wir heute vielleicht noch nicht einmal ahnen. Also müssen wir wach sam bleiben. Dazu müssen wir uns erinnern. Nur wer sich erinnert, kann Gefahren für die Zukunft bannen.Ich bin nicht sicher, ob wir die rechten Formen des Erinnerns für die Zukunft schon gefunden haben... Die Generation der Zeitzeugen geht zu Ende, und es beginnt das Leben einer Generation, die in der Gefahr ist, die Erfahrungen, für die Bergen-Belsen steht, nur noch als Geschichte zu betrachten. Jetzt kommt alles darauf an, über die Vergangenheit so zu sprechen, sie so zu vermitteln und an sie so zu erinnern, daß die Jungen die Verantwortung, gegen jede Wiederholung aufzutreten, als ihre eigene Verantwortung empfinden. Das ist eine ganz ent scheidende Aufgabe unserer Generation. Ihr hat sich alles, alles unterzuordnen, was in diesem Zu sammenhang gedacht und geplant wird.
Noch einmal zusammengefasst: Der Ablauf von 50 Jahren seit dem Ende des NS-Regimes kann nicht Ende des Erinnerns heißen. Was wir jetzt brauchen, ist eine Form des Gedenkens, die zu verlässig in die Zukunft wirkt. Vor allem geht es darum, eine dauerhafte Form zu finden. Das ist wichtiger als schnelle Entscheidungen. Wir sollten uns die Zeit nehmen, die notwendig ist – allerdings auch nicht mehr –, um einen breiten gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Denn wir brauchen eine lebendige Form der Erinnerung. Sie muß Trauer über Leid und Verlust zum Ausdruck bringen, aber sie muß auch zur steten Wachsamkeit, zum Kampf gegen Wiederholungen ermutigen, sie muß Gefahren für die Zukunft bannen. Für mich ist alles richtig, was unseren Kindern und Kindeskindern ihre Verantwortung für Demokratie, für die Freiheit und Menschenwürde in die Herzen gräbt, und für mich ist alles falsch, was am Ende nur in momentanen Alibi-Effekten versandet.
Das sind wir nicht nur den NS-Opfern und nicht nur den möglichen Opfern neuer Diktaturen schuldig, sondern wir sind es auch unseren Kindern selbst schuldig. Die Geschichte des Versagens begann ja nicht erst nach der ›Machtergreifung‹ von 1933. Sie begann schon lange vorher: in nationalistischer Überheblichkeit, in der Zögerlichkeit, mit der die Demokratie von Weimar einerseits gehandhabt und andererseits verteidigt wurde, in Witzen und Karikaturen, in einem wahnsinnigen Machtkalkül, das sich einbildete, Hitler gleichzeitig benutzen und bändigen zu können. Auch unsere Kinder müssen es lernen: Totalitarismus und Menschenverachtung bekämpft man nicht, wenn sie schon die Macht ergriffen haben. Man muß sie schon bekämpfen, wenn sie zum ersten Mal – und vielleicht noch ganz zaghaft – das Haupt er heben. Nach der ›Machtergreifung‹ war für den einzelnen gegen den Nationalsozialismus nicht mehr allzuviel auszurichten.
Nun lag das Versagen vor allem im Wegschauen. Wer Augen hatte, konnte zwar sehen. Aber das war gefährlich. Und vor allem, es war unbequem. Man sah weg, als jüdischen Ärzten und Rechts anwälten die Zulassung entzogen wurde; man wechselte eben zu anderen. Man sah weg, als jüdischen Geschäftsleuten ihr Gewerbe weggenom men wurde; es gab ja Interessenten, die es erwerben wollten. Man sah weg, als Juden der Zugang zu Restaurants und Cafés, Bibliotheken und Parks durch Verbotsschilder verwehrt wurde. Und man sah weg, als Nachbarn abgeholt wurden, und fragte nicht, warum sie nie wiederkamen.
Auch das ist die Lektion von Bergen-Belsen: Man ist nicht nur verantwortlich für das, was man tut, sondern auch für das, was man geschehen lässt. Wer es zuläßt, daß anderen die Freiheit geraubt wird, verliert am Ende die eigene Freiheit. Wer es zuläßt, daß anderen die Würde genommen wird, der ver liert am Ende die eigene Würde. Gewiß, nicht alle haben weggesehen.
Es gab den Widerstand Dietrich Bonhoeffers, der Geschwister Scholl, des 20. Juli. In Bergen-Belsen büßten Rudolf Küstermeier und Heinrich Jasper für ihre Opposition gegen die Nazi-Diktatur. Es gab auch Menschen, die im Alltag ihren Anstand bewahrten. Es gab den Wissenschaftler, der seine Freundschaft zum plötzlich geächteten Kollegen eben nicht auf staatlichen Befehl aufgab. Es gab die Familie, die es sich nicht nehmen ließ, ihre jüdischen Freunde zu Hause zu besuchen. Es gab die Hausfrau, die des Berufs beraubte Nachbarn mit Lebensmitteln ver sorgte. Und es gab Menschen, die, obwohl es mit höchstem Risiko verbunden war, Juden aufnahmen und versteckten.
Sie waren Helden, aber sie waren wenige, und sie allein konnten das Unheil nicht mehr abwenden. Bergen-Belsen ist nicht nur Vergangenheit. Jorge Semprun hat es uns erklärt, indem er sagt: ›Die Geschichte ist frisch. Der Tod steht noch im Präsens.‹ Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen, müssen wir erkennen, daß die Gefahr des Totalitarismus immer noch im Präsens steht und nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt, und daß sie uns auch im Futur wieder begeg nen kann. Unsere Verantwortung ist es, dieses Wissen weiter zugeben...«
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Aus einem Interview mit dem Bundespräsidenten Roman Herzog, »Frankfurter Rundschau« vom 17. Juli 1995
Für mich ist es ganz wichtig, dass die jungen Menschen, die ja von der Zeit vor 1945 überhaupt nichts erlebt haben und die vollständig oder möglicherweise in der einen oder anderen Richtung tendenziös unterrichtet worden sind, die Möglichkeit haben, sich immer wieder an das, was damals geschehen ist, zu erinnern. Daraus ergibt sich für mich vor allem, daß ich eine Art disloziertes Ge denken, ein Gedenken an möglichst vielen Orten, immer unterstützen werde. Ich möchte unendlich viele, vom Inhalt, vom Anlaß her ganz unter schiedliche Orte in Deutschland haben, an denen man unmittelbar mit der Notwendigkeit konfrontiert wird, sich an die Judenvernichtung, die Vernichtung der Sinti und Roma, an den Kriegsanfang, an Kriegsverbrechen zu erinnern. Mir geht es hin und wieder so, wenn ich am Gedenkstein für die Münchner Synagoge stehe, die 1938 niedergebrannt wurde.
Dann denke ich zwei, drei Minuten an diese Geschichte. Ich würde mir wünschen, daß dies an vielen anderen Stellen genauso ist. Deswegen ist mein Interesse an großen Denkmälern auch weniger entwickelt als an der Vielzahl von Gedenkorten. Es kommt noch ein zweites hinzu. Die jungen Menschen gehen davon aus, daß das alles den Eltern passiert ist, ihnen aber nicht passieren könne. Das ist eine Erfahrung, die können Sie auch in Frankreich, in Spanien oder in Israel machen. Man muss der Jugend infolgedessen nicht nur beibringen, wohin Totalitarismus führt, sondern auch wie er beginnt – eben mit ganz kleinen Nadelstichen gegen Juden, gegen wen auch immer...«
Quellen: https://www.bpb.de/system/files/pdf/5JOYKJ.pdf
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Kloster Reute, Oberschwaben (BaWü)