Glyphosat - von Fehlinformationen und wohlwollendem Ghostwriting ...
25 Jahre lang wird eine Studie zitiert, der zufolge Glyphosat für Menschen risikolos ist. Nun zieht das Fachmagazin die Veröffentlichung zurück, weil der Hersteller Monsanto verdeckt mitgeschrieben hat. Wie groß ist der Skandal?
Der Pathologe Gary M. Williams hätte noch einmal Gelegenheit gehabt zu widersprechen: Nein, er ist nicht Teil eines der spektakulärsten Fälle von Wissenschaftsbetrug. Nein, er hat doch nicht Ghostwriter aus der Industrie Passagen schreiben lassen, damit der Agrar- und Chemiekonzern Monsanto bei der Zulassung des Unkrautvernichters Roundup bessere Argumente hat. Doch Williams, früherer Professor des New York Medical College, hat nicht geantwortet auf die drängenden Fragen des Fachmagazins "Regulatory Toxicology and Pharmacology".
Das Magazin hat deshalb die für Monsanto sehr vorteilhafte Studie "Sicherheitsbewertung und Risikoanalyse des Herbizids Roundup und seines Wirkstoffs Glyphosat für den Menschen" zurückgezogen, die dort vor 25 Jahren veröffentlicht wurde. Grund sind "mehrere schwerwiegende Punkte, die die wissenschaftliche Integrität des Artikels und seiner Schlussfolgerungen beeinträchtigen".
Brisant ist das, weil die Studie als wichtiges Argument für Monsanto diente, dass der Unkrautvernichter Roundup und sein Wirkstoff Glyphosat nicht krebserregend sind. Jetzt geht es um die Frage, wie sehr Zulassungsbehörden weltweit sich auf ein wissenschaftlich fragwürdiges Papier eingelassen haben – und welchen Stellenwert die Studie noch hatte, als sie längst als problematisch aufgeflogen war. Für die Unbedenklichkeit des Mittels "stürzt eine Säule ein", behauptet die neuseeländische Initiative "No more Glyphosat". Doch deutsche und europäische Behörden sehen das auf t-online-Anfrage anders.
Das Magazin, das die Studie veröffentlicht hatte, zeigt zum Rückzug noch einmal die Dimensionen der Veröffentlichung: Der Beitrag habe "jahrzehntelang maßgeblichen Einfluss auf regulatorische Entscheidungen bezüglich Glyphosat und Roundup" gehabt, schreibt der Chefredakteur und Verleger. Die Studie sei "wegweisende Arbeit in der Debatte um die krebserregende Wirkung von Glyphosat und Roundup" gewesen. Eine andere Studie hat nachgewiesen, dass die Ursprungsstudie auch deshalb weiterhin eine Rolle spielen konnte, weil sie bislang nicht zurückgezogen worden war.
Die Bedeutung der Studie wurde auch in einer internen Monsanto-Mail überdeutlich, als der Beitrag am 5. Dezember 2000 veröffentlicht wurde: Es sei die "umfassendste und detaillierteste wissenschaftliche Bewertung, die jemals zu Glyphosat verfasst wurde", dankte eine PR-Verantwortliche allen Mitwirkenden der Firma. 25 Jahre später erklärt der Chefredakteur und Herausgeber des Magazins: "Es ist unklar, inwieweit die Schlussfolgerungen der Autoren durch externe Beiträge von Monsanto ohne entsprechende Quellenangabe beeinflusst wurden."
Die Dankesmail wurde nur deswegen öffentlich, weil Monsanto 2017 bei einer Klage interne Firmenkommunikation offenlegen musste. Bekannt wurden die Inhalte als die "Monsanto-Files". Kurz zuvor hatte die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) eine aufsehenerregende Einschätzung veröffentlicht: Die bei der Weltgesundheitsorganisation WHO angesiedelte Stelle hatte 2015 die Forschungsergebnisse zu Glyphosat mit ihren Experten ausgewertet und war zu einem anderen Ergebnis gekommen als die Zulassungsbehörden: Sie stuft das Unkrautvernichtungsmittel als "wahrscheinlich krebserregend für den Menschen" ein.
Es folgten massenhaft Klagen, die heute den Mutterkonzern Bayer beschäftigen. Menschen, die nach ihrer Ansicht durch den Kontakt mit Roundup und dessen Hauptwirkstoff Glyphosat an Krebs erkrankt waren, fordern Entschädigung. Der deutsche Chemieriese hat sich 2018 mit der Übernahme von Monsanto für 63 Milliarden Dollar viele Probleme eingekauft. Rund zehn Milliarden Dollar zur Beilegung von Klagen sind bereits gezahlt, Rückstellungen für mögliche weitere Zahlungen in Höhe von sieben Milliarden Dollar gebildet.
Das zeigt: Zum einen ist das Geschäft mit dem Unkrautvernichter riesig. Ebenso außerhalb Europas mit den gentechnisch veränderten Nutzpflanzen, die resistent gegen das Spritzmittel sind. Roundup hat aber auch klar schädlichere Herbizide überflüssig gemacht und ist für viele Landwirte daher kaum wegzudenken. Zum anderen haben aber auch Verbraucher-Anwälte große finanzielle Interessen an Studien, die das Mittel als gefährlich darstellen. Auch dort gibt es Interessenkonflikte bei Studien. Wenn die offengelegt sind, ist das auch wissenschaftlich nicht zu beanstanden.
Die Monsanto-Mails lieferten deutliche Hinweise, dass dort nicht wissenschaftlich sauber gearbeitet wurde: Aus dem Jahr 2015 fand sich der Vorschlag eines Monsanto-Managers, mehrere von ihm benannte Wissenschaftler könnten ihren Namen hergeben als Autoren einer Studie, deren Texte man selbst schreibe. Dann kam der brisante Satz: "So sind wir ja auch bei Williams Kroes & Munro 2000 vorgegangen.“ Er bezog sich auf "WKM2000", die jetzt zurückgezogene Glyphosatstudie. Durch die Veröffentlichung der Mails wurde 2017 klar, dass diese Studie problematisch ist. In einer älteren Mail in der Entstehungsphase der Glyphosatstudie hatte der Monsanto-Manager zudem an den Mitautoren Ian Munro geschrieben: "Alle bei Monsanto haben zugestimmt, Sie als Autor hinzuzufügen." Es ist ein Beleg, wie sehr Monsanto Fäden zog. Williams lebt heute noch, Munro und Robert Kroes sind inzwischen gestorben – beide an Krebs.
Ein Sprecher der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) sagte t-online, seine Behörde "verteidige als Erste die Bedeutung verlässlicher Wissenschaft, da sie die Grundlage all unserer Risikobewertungen bildet". Das Verfassen wissenschaftlicher Artikel im Auftrag Dritter "stelle einen schwerwiegenden Verstoß gegen wissenschaftliche und ethische Grundsätze dar".
Zugleich bestreitet die EFSA, ansässig im italienischen Parma, dass die Studie in Europa "maßgeblichen Einfluss auf regulatorische Entscheidungen" gehabt habe. Die EU-Kommission hatte 2017 Antworten zur Rolle der Veröffentlichung bei Entscheidungsprozessen gefordert. Antwort: Zwar sei "WKM2000" in frühere Bewertungen eingeflossen. Die US-Umweltbehörde EPA gab sie 2017 sogar explizit noch als eine wichtige Quelle an.
Für Risikobewertung und Peer-Review von Glyphosat in Europa seien aber Tausende von Studien und wissenschaftlichen Artikeln genutzt worden. So stellt es auch ein Sprecher des Bundesamts für Risikoforschung für die vergangenen Jahre dar: Bereits beim Bewertungsbericht 2015 im Rahmen des europäischen Peer-Review-Verfahrens zu Glyphosat habe das Papier "keine wesentliche Rolle gespielt".
Den Grund erklärt die EFSA so: Der problematischen Veröffentlichung sei wenig Gewicht zugekommen, weil sie nur eine Rezension anderer Studien darstelle. EU-Experten hätten Zugang zu den Ergebnissen der zugrunde liegenden Originalstudien und den dazu gehörigen Rohdaten und stützten sich bei der Erstellung ihrer eigenen Schlussfolgerungen vornehmlich darauf. Verbindungen zu Monsanto seien auch immer klar gewesen, weil die Studienautoren angegeben hatten, dass Monsanto Daten unveröffentlichter Studien zur Verfügung gestellt habe.
Als 2023 die letzte Risikobewertung von Glyphosat vorgenommen wurde, sei der Artikel gar nicht mehr eingeflossen. Damals kamen die europäischen Behörden zu dem Schluss, dass es "derzeit keine wissenschaftliche oder rechtliche Rechtfertigung für ein Verbot gibt". Die Zulassung von Glyphosat wurde um zehn Jahre bis zum 15. Dezember 2033 verlängert. In den USA muss die Umweltschutzbehörde (EPA) bis zum Oktober 2026 erneut entscheiden, ob Glyphosat weiter verwendet werden darf.
Bayer selbst erklärt in einer Stellungnahme zu der Rücknahme von "WKM2020", zur Sicherheit von Glyphosat-Produkten seien Tausende Studien durchgeführt worden, und die überwiegende Mehrheit davon ohne Beteiligung von Monsanto. "Glyphosat ist das in den letzten 50 Jahren am umfassendsten untersuchte Herbizid", so der Konzern.
Und es war und ist Gegenstand "intensiver wissenschaftlicher Debatten", sagt der Mann, der jetzt dafür gesorgt hat, dass die Monsanto-Studie aus dem Diskurs verschwindet. Alexander Kaurov kommt eigentlich aus der Astrophysik und Klimawissenschaft. An der Victoria University Wellington forscht er interdisziplinär auch zum Einsatz von KI und zu Ghostwriting in der Wissenschaft. Der Antrag, das Papier zurückzuziehen, kam im September dieses Jahres von ihm. Das habe vor ihm offenbar niemand getan, sagte er dem Fachportal AgFunderNews.
Beim Fachmagazin "Regulatory Toxicology and Pharmacology" war nach Bekanntwerden des Ghostwritings 2017 nichts passiert. Dabei war im Jahr vor den "Monsanto-Files eine Analyse des gemeinnützigen Centers for Public Integrity erschienen, die dem Magazin und einem weiteren eine große Industrienähe bescheinigt hatte – Überschrift: "Händler von Junk Science", also Pseudowissenschaft. Der damalige Herausgeber verdiente dem Bericht zufolge auch Millionen als Tabakberater, indem er in wissenschaftlichen Zeitschriften sowie in renommierten Zeitungen Gefahren des Passivrauchens anzweifelte. Das Jahresabonnement für Unternehmen und Institutionen kostet bei neun Ausgaben 2.349 Dollar.
Der Antrag war die Folge einer Studie zu den Folgen von "WKM 2020" von Kaurov und der Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes, Professorin in Harvard: Obwohl eigentlich wissenschaftlich tot, führte die Untersuchung weiterhin ein Leben in der Literatur – weil sie nicht zurückgezogen war. Das belegt er im September in dem Beitrag "Das Nachleben eines von einem Ghostwriter verfassten Artikels – Wie die Autorenschaft von Unternehmen zwei Jahrzehnte des Diskurses zur Glyphosatsicherheit prägte" im Magazin "Environmental Science & Policy".
Kaurov und Oreskes erläutern: "Durch die Veröffentlichung in der wissenschaftlichen Literatur erlangte die Arbeit einen Anschein von Glaubwürdigkeit, der es schwierig machte, sie als problematisch zu kennzeichnen, selbst nachdem ihre Urheberschaft aufgedeckt worden war." "WKM2000" war bei einer Auswertung von 22.800 wissenschaftlichen Publikationen zu Glyphosat die neuntmeistzitierte Publikation und gehörte damit zu den Top 0,1 Prozent.
Auch nach 2016 und den Enthüllungen sei die Zitationsrate mit durchschnittlich 40 bis 60 neuen Zitationen pro Jahr konstant geblieben. Und: Hinweis auf Interessenkonflikte oder fragwürdige Autorenschaft fehlte fast immer – bei 500 Publikationen hätten lediglich 13 entsprechende Hinweise enthalten.
Das Problem setzte sich bei Wikipedia fort: Bearbeiter vertraten die Position, die Arbeit ohne Vorbehalt zu zitieren, so lange sie ohne formellen Widerruf oder Widerlegung in der Literatur stehe. Sie "behandelten die Arbeit konsequent als valide wissenschaftliche Quelle, selbst nachdem bekannt wurde, dass sie von einem Ghostwriter verfasst worden war". Das bedeute: Sobald eine Arbeit in die wissenschaftliche Literatur gelangt sei, gelte es in der Online-Enzyklopädie als Gefährdung der Neutralität und nicht als Beitrag zur Wahrheitsfindung, wenn Nutzer den Ursprung in der Unternehmenskommunikation verdeutlichen wollten.
IKaurov und Oreskes beklagten: "WKM2000" nicht zurückzuziehen, trage zur Verbreitung von Fehlinformationen bei, untergrabe das Vertrauen in die redaktionelle Kontrolle und signalisiere die Duldung der Manipulation wissenschaftlicher Publikationen durch Unternehmen.
Eine Rücknahme lösche zwar nicht 25 Jahre Einfluss aus, sende aber ein klares und längst überfälliges Signal: "Betrügerische Autorenschaft ist inakzeptabel, und die wissenschaftliche Dokumentation wird geschützt." Der Appell wurde erhört.