SONNTAG - Stopp im Wahnsinn des Alltags ... Selbstreflexion statt Ideologisierung auf der Straße und Verblödung vor dem Fernseher ...
Der Sonntag sollte ja eigentlich der Tag sein, an dem die - zumindest christlich geprägte - Welt einen Augenblick innehält und dem Menschen die Möglichkeit gegeben wird, genauer hinzusehen, was er da die zurückliegende Woche erledigt oder eben nicht erledigt hat.
Statt des alltäglichen weiter, weiter und schneller, schneller und höher, höher und mehr, mehr, mehr. Denn in der Realität steht dieses "Innehalten" unter dem wechselnden Licht von Beschleunigung, Bruchlinien einerseits und der Sehnsucht nach Sinn andererseits. Das einzige Land, in welchem dieses "Gebot" ernstgenommen wird, ist Israel - kein christlich, sondern überwiegend jüdisch geprägtes Land. Dort ist es der Sabbath, an dem die Arbeit ruht. Der 7. Oktober 2023 war ein solcher Sabbath.
Abgesehen davon prägen Beschleunigung und Erschöpfung nicht nur unseren Alltag, sondern auch den Sonntag. Unsere Gegenwart ist getaktet durch ständige Verfügbarkeit, Echtzeitinformationen und das Gefühl, immer reagieren zu müssen. Diese Dauererregung lässt tiefe, langsame Reflexion verkümmern. Und wenn man/frau sich das Programmangebot der Fernsehsender RTL/ProSieben und Kochshows - auch beim ÖRR - und dergleichen betrachtet, dann kommt zu alle dem noch die sukzessive Verblödung der Mehrheit des Volkes, für die wir alle zahlen respektive zahlen müssen. Und das gleich im doppelten Sinne.
Der Rest der noch Nachdenklichen ist gespalten aufgrund der Krisen unserer Zeit: Klimaveränderung, Ukrainekrieg, deutsche Rentenpolitik, Wehrdienst ja oder nein und die Entwicklungen im Nahen Osten. Sie alle rufen beim Menschen - jedenfalls bei jenen, die nicht vor dem Fernseher verblöden - kollektive Schuldgefühle, Angst, Hass auf Andersdenkende oder Ohnmacht hervor.
Die gegensätzliche Narrative verstärken einerseits zwar Identitäten und "Glaubensgemeinschaften", verringern aber andererseits die Bereitschaft, die Welt durch fremde Augen zu sehen. Dazu kommt die digitale Überflutung, in welcher der/die Einzelne trotz der Flut von Kontakten, in der emotionalen Isolation endet.
Leugnung von Realitäten, Verdrängung von uns eigentlich betreffende Probleme und Projektion unseres Versagens treten nicht nur individuell, sondern vor allem kollektiv auf. Der Mensch verlagert Verantwortung nach außen, spaltet komplexe Probleme in ein einfaches Feind-Freund-Bild und beruhigt das Ich respektive das Kollektiv durch Ritualisierung.
Es ist letztlich die Suche nach der narzisstischen Kohärenz und stabilisierenden Selbstbildern in einer im Grunde zerrissenen Gesellschaft. Die so "gewonnene" Identität wird verteidigt, oft auf Kosten von Kurzatmigkeit in Diskussionen und Empathie-Verlust. Dabei sind viele Reaktionen primär nicht rational, sondern verlangen nach eigentlich notwendigen Prozessen der Selbstreflexion, die so aber ungelöst bleiben. Damit dominieren weiterhin Ohnmacht und Wut.
Helfen könnten hier die Rückkehr zu solidarischen Bindungen, die nicht nur instrumentell und vor allem ideologisch geprägt, sondern emotional und zwischenmenschlich getragen sind. Kleine Rituale des Abschaltens würden Raum zum Denken und zur Selbsterkenntnis schaffen. Fragen statt verurteilen; empathisches Zuhören statt sofortiger Verteidigung, und individuelle Schritte respektive kollektive Strukturen könnten sich bei der Annäherung an den Andersdenkenden wechselseitig stützen.
Wir leben in Zeiten, die uns eigentlich zwingen sollten, unsere inneren Räume zu befragen: Was hält mich? Wofür bin ich bereit, meine Gewohnheiten zu ändern? Wer bin ich in Gemeinschaft mit anderen? Der Sonntag wäre dafür ein geeigneter Stopp im Wahnsinn des Alltages. Doch die Antworten werden nicht als Blitz kommen, sondern als Serie leiser Umwandlungen. Wer diese Arbeit beginnt, gibt der Zukunft eine Form, in der weniger gebrüllt, gehasst, skandiert und ideologisiert, sondern mehr verstanden wird.
Stefan Weinert