https://www.derstandard.at/story/3000000241344/hamas-chyahya-sinwar-brachte-tod-statt-befreiung
vom 18.10. 2024 Der Standard, Austria (Auszüge ... )
Yahya Sinwar war ... der Drahtzieher des Hamas-Überfalls vom 7. Oktober 2023 mit mehr als 1.100 Toten und 250 Entführten, den er über Jahre geplant hatte. ...
Yahya Sinwars sadistischer Charakter war den Israelis vor allem aus den Schilderungen von Micha Kobi, der ihn während seiner Haft in israelischen Gefängnissen verhört hatte, bekannt. Er wurde zum personifizierten Bösen. Auch seine Mithäftlinge fürchteten ihn: Zu Sinwars Profil gehörte von Anfang an nicht nur der Hass auf Israel, sondern auch die Brutalität gegen "Verräter" – Palästinenser, die unter Verdacht standen, mit Israel zusammenzuarbeiten. 1988 hatte er seine fünf Lebenslang-Urteile nicht nur für die Mitwirkung am Mord an zwei Israelis, sondern auch an fünf Palästinensern erhalten. Er war der "Schlächter von Khan Younis".
Sinwar, 1962 im Flüchtlingscamp Khan Younis geboren, im damals noch unter ägyptischer Verwaltung stehenden Gazastreifen, wird nicht als der Befreier der Palästinenser in die Geschichte eingehen. Gemeinsam mit dem Überfall auf Israel vom 7. Oktober 2023 bereitete er auch den Untergang des Gazastreifens und den Tod tausender Palästinenser und Palästinenserinnen vor. ...
Sinwar war an der Bildung des militärischen Arms der Hamas beteiligt, der 1991 den Namen Izzeddin-al-Qassam-Brigaden bekam – nach einem in Syrien geborenen und 1935 getöteten islamischen Geistlichen, der die Briten, aber auch die Franzosen – Mandatsherren in Syrien – bekämpfte. Yahya Sinwar gehörte der Al-Majd-Einheit der Qassam-Brigaden an: Deren Aufgabe war es, Palästinenser für ihre "Kollaboration" mit Israel zu bestrafen.
Ab 1989 verbrachte Sinwar insgesamt 22 Jahre in israelischen Gefängnissen, dort überlebte er auch eine Erkrankung an einem Gehirntumor. Er übersetzte – er sprach Hebräisch, es hieß von ihm immer, dass er die Israelis viel besser verstand als sie ihn – und schrieb. 2011 kam er, während einer der Regierungszeiten Benjamin Netanjahus, als einer von tausend palästinensischen Gefangenen, zum Teil Schwerverbrecher, im Austausch mit dem israelischen Soldaten Gilad Shalit frei. Schon 2012 stieg er ins Hamas-Politbüro auf.
2017 wurde Yahya Sinwar zu dessen Gaza-Chef gewählt. Das ist im Nachhinein bemerkenswert, weil, wie Joseph Croitoru in seinem Buch über die Hamas schreibt, diese Ernennung im Grunde nicht zur Charta-Änderung der Hamas zu dieser Zeit passte. Die Charta wurde damals etwas abgerüstet – während jedoch gleichzeitig immer mehr Personen mit militärischem Hintergrund an die Spitze aufstiegen. ...
Die Änderung der Charta hatte die Hamas unter ägyptischem Druck in einer Periode politischer Schwächung vollzogen. Darin wurde erstmals eine mögliche Akzeptanz eines Palästinenserstaats in den Grenzen der Waffenstillstandslinien von 1949 (bis 1967) angedeutet, also auch die Existenz Israels. Vor allem jedoch kappte die Hamas die Verbindungen zur ägyptischen Muslimbruderschaft, ihrer ideologischen Herkunft. In Kairo hatte Abdelfattah al-Sisi 2013 den Muslimbruderpräsidenten Mohammed Morsi gestürzt, die Muslimbrüder kamen in der ganzen Region unter Druck.
Sinwar lebte nach dem 7. Oktober [2023] im Gazastreifen im Untergrund und galt als derjenige, der alle Kompromisse mit Israel zu Geiselbefreiung und Waffenstillstand ablehnte. Nach dem Tod Haniyehs im Juli erbte er dessen Posten und wurde so auch formal zum mächtigsten Mann der Hamas, was er schon zuvor war.
Anders als erwartet war er jedoch, als er am Mittwoch [16. Oktober 2024] getötet wurde, nicht von Geiseln umgeben. Die Frage nach deren Schicksal ist für viele Israelis jetzt entscheidend – und nicht zu beantworten. Zu hoffen ist, dass ein Einlenken einer ihres radikalsten Führers beraubten Hamas nun wahrscheinlicher wird. Zu befürchten ist, dass im Chaos nach dessen Tod vielleicht auch unkontrollierte Racheakte stattfinden. ...
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Auszüge, Markierungen vom Blogger
https://www.zeit.de/2024/43/jahia-sinwar-anfuehrer-hamas-terrorismus/seite-2
Sinwar zählt zur ersten Generation der Hamas, er schloss sich als Student den Vorläufern der Gruppierung um ihren charismatischen Führer Scheich Jassin an. Nach Gründung der Hamas zu Beginn der ersten Intifada 1987 betraute der Scheich seinen Zögling Sinwar damit, einen internen Sicherheitsapparat aufzubauen. Dessen Abteilung namens Al-Madschd sollte angebliche Verräter aufspüren und unschädlich machen, die mutmaßlich den israelischen Geheimdiensten oder dem israelischen Militär zuarbeiteten. In der Anklage eines israelischen Staatsanwalts von 1989, die der ZEIT vorliegt, heißt es, Sinwar habe dem Scheich vorgeschlagen, verdächtige Kollaborateure "zu entführen und zu verhören". Bald nannte man Sinwar ob seiner Skrupellosigkeit den "Schlächter von Chan Junis". Es gilt als sicher, dass er Menschen [Palästinenser] zu Tode folterte oder foltern ließ. Ein ehemaliger israelischer Nachrichtendienstler, der Sinwars Akte kennt, ist sicher, dass der Hamas-Mann bis zum 7. Oktober 2023 mehr Palästinenser als Israelis auf dem Gewissen hatte. ...
Alle, die mit ihm ... zu tun hatten, ... charakterisieren Sinwar ähnlich: intelligent und kalt, ein Stratege. Aber auch charismatisch und streng religiös, ein Ideologe. Dabei stets höflich, weder verrückt noch ein Psychopath. Jemand, der nie sein großes strategisches Ziel aus den Augen verliert. Ein ungemein gefährlicher Gegner. Seine Zeit im Gefängnis nutzte Sinwar, um die Israelis zu studieren. Er lernte Hebräisch, verfolgte allabendlich die Nachrichten im israelischen Fernsehen und dachte sich in die Sichtweise der Sicherheitsbehörden hinein. In den Verhandlungen um den gekidnappten Soldaten Gilad Schalit *) gab es einen Moment, da schien ein Austausch schon beschlossene Sache, nur Sinwars Zustimmung fehlte noch. Aber Sinwar, der selbst auf der Liste der zu entlassenen Palästinenser stand, stimmte nicht zu. Stattdessen erhöhte er die Forderungen und verlangte die Freilassung mehrerer Attentäter, die Blut an ihren Händen hatten. Schließlich gab der israelische Premier Benjamin Netanjahu nach. Sinwar hatte getestet, wie weit Netanjahu zu gehen bereit war. Und er hatte sich durchgesetzt.
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*) Gilad Schalit ist ein ehemaliger israelischer Soldat. Er wurde am 25. Juni 2006 durch Terroristen der Hamas in Israel entführt und anschließend über die Demarkationslinie an einen unbekannten Ort im Gazastreifen gebracht, wo er über fünf Jahre verbrachte, bis er am 18. Oktober 2011 im Rahmen einesGefangenenaustausches freigelassen wurde.