Von "Adam" bis zur "Generation Z" - Evolution ohne Migration nicht denkbar ...
Vorläufig formuliert handelt sich bei Migration um eine längerfristige Verlegung des Wohnsitzes von Einzelnen oder Gruppen an einen anderen Ort bei gleichzeitiger Überschreitung von Begrenzungen (boundaries) oder Barrieren (geographische Grenzen und/ oder kulturelle und/oder sprachliche Barrieren). Wir nehmen Migration durch die Vermittlung der Medien in erster Linie als ein Problem wahr, das spezifisch mit unserer Gegenwart, mit dem Zeitalter der Globalisierung, der weltweiten Kommunikation und beschleunigter Mobilität verbun den ist. Unabhängig davon, ob Politiker, Soziologen oder die Medien – je nach Weltbild und individueller Betrachtung des Phänomens Migration – eher auf die Hilfsbereitschaft der Aufnahmegesellschaften und auf den Bedarf der überalternden europäischen Gesellschaften an Neubürgern eingehen, oder ob die Gefahren der „Überfremdung“, die Angst vor dem „Anderen“ und die Bedrohung der überkommenen Kultur beschworen werden, gilt Migration als ernsthaftes und vor allem zeitspezifisches Problem, als Herausforderung für die Gegenwart. Ob nun die sinnvolle Integration oder die behördlich organisierte Zurückweisung der „Flut“ der Migranten angestrebt wird:
In der Darstellung des Problems treten Naturmetaphern hervor, die mit Katastrophen verbunden sind. Wellen, Fluten, Flüchtlingsströme oder gar -tsunamis schwappen durch die Berichterstattung, auch durch die seriöse. Kurzum: Die seit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts verstärkte und durch Klimawandel und die inter nationalen Konflikte der Gegenwart im Jahre 2015 in Europa zu einem vorläufigen Höhepunkt gelangte „Flüchtlingskrise“ tritt ins öffentliche Bewusstsein als ein emblematisches Zeichen unserer Zeit.
Migration als conditio humana In diesem Aufsatz möchte ich dafür argumentieren, dass dies eine einseitige und damit unzutreffende Wahrnehmung von Migration ist und vielmehr das Gegenteil der Fall ist: Migration ist ein definitorisches Kennzeichen unserer Art, des homo sapiens. Migration ist integraler Teil unserer conditio humana, sie war und ist Motor des Fortschritts, des kultu rellen Austauschs, des Wissenstransfers und der Verbreitung von Ideen, Techniken und Weltanschauungen, und vor allem: Migration ist ent wicklungsgeschichtlich nichts Neues. Migration war und ist ein über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg in hohem Maße wiederkehrendes, zeitübergreifendes und weltweites Phänomen.
Die weltweit vernetzte moderne Migrationsforschung hat in ihrer überwiegenden Mehrheit nur die neuzeitliche Geschichte, etwa seit dem 17. Jahrhundert, im Blick. Vor allem der verengte Blick auf die Arbeitsmigration, die erst seit der Industrialisierung eine große Rolle zu spielen begonnen hat, beschäftigt aktuelle Studien zur Migrationsgeschichte überproportional. Auch die vermeintliche Verbin dung zwischen dem Aufkommen des modernen Kapitalismus und einem Anstieg von Migrationsbewegungen in der Neuzeit leitet oftmals das In teresse der Forscher. Der Schwerpunkt der Migrationsforschung, die mit beachtenswerten Detailstudien zum transatlantischen Sklavenhandel, zur Migration von rund 50 Millionen Europäern nach Nord- und Südamerika im 19. Jahrhundert und zu den auf die Weltkriege folgenden Wanderungs bewegungen hervorgetreten ist, liegt neben der Gegenwart eben auf jenen Epochen und Zeitabschnitten der neueren Geschichte, die eine hohe Quel lendichte produziert haben.
Diese vielen und vielgestaltigen Quellen, Frachtpapiere, behördliche Einwanderungsregister, Auswandererbriefe usw., machen eine statistische Erfassung und Datenauswertung, Analyse von Motiven und das Aufstellen einer Typologie von Migrationsphänomenen und gründen erst möglich. Verständlicherweise entsteht so – auch bei vielen der Migrationsforscher selbst – die Überzeugung, Migration, zumindest in den für die Neuzeit beschriebenen Formen, sei ein jüngeres Phänomen, das auch qualitativ von der Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse, der technischen Entwicklung und der durch die Globalisierung näher rückenden Räume geprägt worden sei. Gerade auch die politische.
Eine Ausnahme ist der amerikanische Forscher Patrick Manning, der in seinen weithistorischen Betrachtungen zur Migration auch die Vor- und Frühgeschichte ausführlich würdigt. Die Dimension des Phänomens befördert eine Konzentration auf rezente Entwicklungen und aktuelle Untersuchungen zu Migration. Die Notwendig keit von Politikberatung und konkretem administrativem Lösungsbedarf von Migrationsfragen legt vielen Migrationsforschern auch aus prakti schen Gründen nahe, die Gegenwart überproportional in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen und damit die Exzeptionalität moderner Migration zu suggerieren. Implizit müssten daher Wanderungsbewegungen, die man bis vor wenigen Jahren für die Ur- und Frühgeschichte aufgrund weniger archäologischer Funde nur erahnen konnte und die sich für die klassische Antike nur durch wenige Quellen belegen lassen, welche zudem Ausmaß und Motive im Dunkeln lassen, von den neuzeitlichen Formen der Migration grundlegend unterscheiden. Man vergleiche also Äpfel mit Birnen, die zwar beide an Bäumen wachsen, aber dennoch höchst unterschiedlich sind.
Einer der wichtigsten soziologischen Vertreter der Migrationsforschung, Wilbur Zelinsky, hat sogar den frühen Epochen der Menschheitsgeschichte jegliches Migrationspotential abgesprochen, diese Phasen seien allenfalls von Mobilität in Form von Nomadismus geprägt. Er betrachtete Migrationsgeschichte evolutionistisch, so dass mit steigender Komplexität und Urbanisierung von Gesellschaften auch die Migrationsphänomene zunähmen. Darüber hinaus galt auch das europäische Mittelalter, das lange Zeit den historiographischen Humus für die Meistererzählungen nationalstaatlicher Geschichtsschreibung bilden musste (mit Auswirkungen bis weit in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein) als Zeitalter der Sesshaftigkeit, Bodenständigkeit und Stabilität von Populationen. Erst neuere Forschungen verweisen auf die enorme Mobilität und die Bevölkerungsverschiebungen, welche das Mittelalter auch jenseits der bekannten Elitenwanderungen in die Kreuzfahrerstaaten oder der Übernahme Englands durch die Normannen kennzeichneten. ---
An dieser einschränkenden und unzutreffenden Sicht, die in den letzten Jahren im Rahmen einer „Renaissance der Weltgeschichte“ immer mehr zugunsten einer globalgeschichtlichen und epochenübergreifenden Betrachtung des Phänomens Migration korrigiert wird, trägt nicht nur die Fixierung der Historikerzunft auf das umfangreichere und oftmals leichter interpretierbare Quellenmaterial der Neuzeit die Schuld. Auch die Zersplitterung der Fachdisziplinen und ihre anhaltende, in die scheinbare Unendliche ausfächernde Untergliederung lassen eine Vielzahl neuer wissenschaftlicher Bäume erwachsen, die den Blick auf den Wald oftmals erschweren. Das gilt auch für die Geschichtswissenschaft, eine stetig wachsenden Großdisziplin, in welche Forschungsergebnisse aus den Bereichen der Altertumswissenschaften und der Archäologie oder gar der neuen Archaeogenetic nur in Ausnahmefällen noch von Neuzeithistorikern wahrgenommen werden.
Doch gerade die Ur- und Frühgeschichte vermeldet spektakuläre neue Einsichten: Erst in der zurückliegenden Dekade haben neue Verfahren der Gentechnik und der Naturwissenschaften allgemein zusammen mit Ergebnissen aus der archäologischen Forschung geradezu spektakuläre Erkenntnisse über großräumige Wanderungen von Frühmenschen und unserer eigenen Spezies in der Vorgeschichte ermöglicht, die uns geradezu dazu zwingen, die Geschichte unserer Spezies von Anbeginn bis heute als Migrationsgeschichte zu begreifen. Migration ist ein Phänomen, das nicht nur epochenübergreifend gesehen werden muss, Migration ist auch von welthistorischer Bedeutung. Während das Hauptaugenmerk vieler Forscher auf den etwa 50 Millionen europäischen Auswanderern, die zwischen ca. 1815 und 1914 die beiden Amerika erreichten, oder auf den rund 12 Millionen versklavten Afrikanern liegt, deren Zwangsmigration zwischen dem 17. Jahrhundert und 1880 einen besonderen Schwerpunkt innerhalb der Forschung bildet, kommen die präkolonialen und auch modernen Wanderungsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent, oder in Südostasien allenfalls in Spezialstudien zur Sprache.
Aber auch im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts übertrafen Wanderungsbewegungen nach Südost- oder Zentralasien zahlenmäßig die europäische Auswanderung um fast das Doppelte. Nur zum Vergleich: Allein 1937 flohen rund 100 Millionen Chinesen vor den japanischen Invasoren. Im Jahr 2013 verzeichneten die zehn ASEAN-Staaten in Südostasien rund 28 Millionen interregionale Migranten; 2015 kamen dagegen „nur“ rund 1,25 Millionen Menschen - meist Kriegsflüchtlinge als Asylsuchende - ins Europa der seinerzeit 28 Mitgliedsstaaten. Ein Seitenblick auf die in den Migrationsgeschichten nicht immer gebührend berücksichtigten anderen Kontinente, jenseits der atlantischen Verbindung, kann durchaus Akzentverschiebungen bei der Beurteilung der Sachverhalte und Größenverhältnisse mit sich bringen.