Von Hildegard aus Bingen, bis Oswald Kolle - "Einem Schiff in großen Wellen und im heftigen Sturmwinde - so gefährdet, dass es manchmal kaum standhalten kann“.
Oswalt Kolle war ein Sohn des renommierten Psychiaters Kurt Kolle. Er wurde 1928 in Kiel geboren und starb 2010 in Amsterdam in den Niederlanden. Hildegard von Bingen, die Heilige, die sogar noch Wunder aus ihrem Grabe vollbracht haben soll, lebte von 1098 bis 1179 in deutschen Landen. Beide wurden 81 Jahre alt, was für die mittelalterliche Nonnen eine besondere Leistung war, denn die meisten Frauen dieser Zeit wurden nicht älter als 40 Jahre.
Aber deswegen einen Artikel über Hildegard von Bingen und Oswald Kolle schreiben? Nein! Sie haben noch etwas anderes, als das hohe Lebensalter gemeinsam. Während der Name "Oswalt Kolle" quasi ein Synonym für "die sexuelle Aufklärung der Bundesrepublik Deutschland vor der Wende" ist, weiß kaum jemand, dass "Hildegard von Bingen", deren Namen bei uns sofort die "Kräuterheilkunde mit Gültigkeit bis auf den heutigen Tag" assoziiert, die Menschen ihrer Zeit über das sexuelle Verlangen von Mann und Frau und über die Vorgänge während ihrer Orgasmen aufklärte.
Beides - Kolles sexuelle Initiative in den 1960er und 1970er Jahren im Nachkriegsdeutschland und Hildegards Schriften abseits von Kräutern und "Bienen" - brachte die jeweilige Hoheit von Wallung bis zur Empörung. Auch der Deutsch-Niederländer schrieb einige Aufklärungsbücher. Doch als zwischen 1968 und 1972 seine entsprechenden Filme in die Kinos kommen sollten, gab es richtig Ärger. Tagelang musste er mit Zensoren der Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) verhandeln. Jede einzelne Szene wurde durchgesprochen, wobei einer der Zensoren den in der Folgezeit berühmt gewordenen Satz „Herr Kolle, Sie wollen wohl die ganze Welt auf den Kopf stellen, jetzt soll sogar die Frau oben liegen!“ äußerte. Die Aufklärungsfilme brachten ihm häufig den Vorwurf ein, gegen Sitte und Moral zu verstoßen.
In ihren vielfältigen Schriften beschränkte sich Hildegard keinesfalls auf ihre Erkenntnisse über die Heilkraft von Blumen und Kräutern und medizinische Hilfen bei Nasenbluten, Fieber oder den manchmal notwendigen Aderlass, sondern sie schrieb mit erstaunlicher Nüchternheit auch über Themen wie „Von der Empfängnis“, „Von der geschlechtlichen Begierde“, oder „Vom nächtlichen Samenerguss“. Und - Skandal! Skandal! - sie beschreibt sehr detailliert und - entweder Gänsehaut erzeugend oder haarsträubend (je nach dem) - offenherzig die erotischen und sexuellen Handlungen von Mann und Frau. Ungeachtet der traditionellen Verurteilung der Sexualität an anderen Stellen ihrer Schriften wird die sexuelle Lust als göttliche Kraft interpretiert, ausdrücklich erkennt sie im „Streben der Begierde und der Zeugungskraft des Mannes“ ein Zeichen der „Liebeskraft Gottes“.
Hildegard vergleicht die männliche Lust mit einem „Schiff in großen Wellen“, im „heftigen Sturmwinde …, so gefährdet, dass es manchmal kaum standhalten kann“. Die Lust der Frau hingegen gleiche einem „sanften Wind, bei dem sich ein kleines Schiff, wenn auch nur mit Mühe halten“ könne. Die Frau spüre ihre Lust wie „eine sanfte, milde aber dennoch ständige Wärme In einem nüchternen Text unter der Überschrift „Von der Empfängnis“ beschreibt Hildegard das lustvolle Hitzegefühl der Frau – die Sätze sind populär geworden als erste Beschreibung des weiblichen Orgasmus:
„Ist die Frau mit einem Mann vereint, dann kündigt ein lustvolles Hitzegefühl in ihrem Gehirn den Genuss dieser Lust und den Samenerguss bei dieser Vereinigung an. Ist der Samen an die richtige Stelle gefallen, dann zieht ihn die erwähnte starke Hitze im Gehirn an sich und hält ihn fest. Dann ziehen sich auch die Lenden [auch: Nieren, renes] dieser Frau zusammen, und alle Glieder, die zur Zeit der Menstruation bereit sind, sich zu öffnen, schließen sich alsbald so fest, wie wenn ein starker Mann etwas in seine Hand schließt. Hildegard von Bingen hat von ihrer Mitschwesternschaft nicht verlangt, ihre Weiblichkeit zu unterdrücken. Das war im Umkreis von Bingen bekannt.