MENSCHENWÜRDE: Deutschland - Europa - Israel - Palästinenser . . .
Der Deutsch-Israeli Omri Boehm ist wohl einer der meistbeschäftigten Philosophen unserer Zeit. Ständig fliegt er zwischen New York, wo er lehrt, und dem Rest der Welt hin und her, um eine alternative Sichtweise auf die kriegerische Situation im Nahen Osten aufzuzeigen. Gerade ist er auf Einladung des Forums Basiliense, einer Plattform für interdisziplinären Dialog der Universität Basel, zu einem Vortrag und einem Seminar angereist. Wir treffen uns in einem Café. Boehm schaut sich während unseres Treffens immer wieder nach ungebetenen Zuhörern um. Das Sprechen über den Nahen Osten ist heikel.
NZZ am Sonntag: Herr Boehm, denken Sie manchmal, wenn Sie sich in der eher düsteren Realität umschauen, es sei alles so nutzlos, was Sie denken und schreiben?
Wissen Sie, wer denkt und schreibt, wirft eine Flaschenpost ins Meer. Vielleicht wird sie irgendwer irgendwann öffnen. Mir ist es wichtig, dass ich über das Offensichtliche – und das ist derzeit in der Tat alles ziemlich düster – hinausdenke. Ich will Alternativen am Leben erhalten, insbesondere die, die notwendig sind für einen zukünftigen Frieden, aber derzeit ganz weit hergeholt erscheinen.
Sie verzweifeln auch nicht, wenn Ihnen Menschen auf Hebräisch zuflüstern, Ihre Frau möge vergewaltigt und Ihr Sohn umgebracht werden? So geschehen diesen Sommer, als Sie auf dem Wiener Judenplatz eine im Vorfeld von Politikern skandalisierte Rede über Europa hielten.
Das war wirklich hässlich. Aber wenn Menschen so wütend auf einen sind, dann deshalb, weil sie wissen, dass einem viele andere zuhören. Und die Wütenden hatten recht: Die Mehrheit hörte zu. Das Wiener Publikum verstand, dass der Inhalt mit der Form geht. Diejenigen, die für Europa, für Demokratie und Menschenrechte sprechen, ohne Antisemitismus zu tolerieren, laden alle zur Diskussion ein. Währenddessen schreien die Kritiker, fluchen, wollen Eier werfen.
Sie sind einer der ganz wenigen Intellektuellen, die nicht in den Kanon des Weltuntergangs einstimmen und nicht bereit sind, eine politische Seite einzunehmen. Warum?
Einige finden, ich gehörte der extremen Linken an. Das ist falsch. Ich gehöre zu nichts und niemandem. Meine hauptsächlichen, offenbar kontroversen Positionen sind eigentlich harmlos. Etwa dass eine liberale Demokratie ein Staat sein muss, der allen Bürgern als Bürgern gehört. Juden, Palästinensern, egal. Einige sagen, dies gefährde das Existenzrecht Israels. Die Wahrheit ist, dass dieses Denken zurzeit die einzige Chance ist, dass der Staat Israel überleben kann.
Sie verweigern sich jeglicher Vereinnahmung. Sie kritisieren die israelische Regierung für ihr Vorgehen in Gaza, andererseits haben Sie die Hamas immer für ihre Terrorakte gegen Israel und die eigene Bevölkerung verurteilt. Auch einer internationalen Linken gegenüber, die die Hamas als «Freiheitskämpfer» feiert, zeigten Sie sich fassungslos. Was treibt Sie an?
Die Wahrheit.
Oh, ein hochtrabendes Wort.
Stimmt. Sagen wir es besser so: die Wahrheit nicht bloss als Fakt, eher als eine Realität der Ideale. Zum Beispiel die universalistischen Prinzipien der Menschenrechte. Für manche klingt das heute leider fast kitschig.
Ihr Hauptprinzip lautet «Die Würde des Menschen ist unantastbar».
Ja, als eine Säule des Rechts.
Warum soll es kontrovers sein, diesen Satz zum Prinzip zu erheben?
Weil man in diesem historischen Moment erkennen kann, wie mächtig dieses Prinzip ist. Im Falle von Israel stellt es die Frage einer jüdischen Demokratie infrage. Für Postkolonialisten limitiert es das Recht der Palästinenser auf Widerstand. Das Prinzip der Menschenwürde, als Teil des Rechts, gilt in Europa, den Vereinten Nationen. Als Prinzip kann man es fast als selbstverständlich ansehen, aber unterschätzen Sie nicht, was passiert, wenn dieses moralische und metaphysische Prinzip als inhärenter Bestandteil des Rechts verankert wird. Es schränkt beispielsweise einen bestimmten Begriff der Souveränität ein; und es lädt zu einer Beziehung zum Völkerrecht ein, die denjenigen, die auf Souveränität bestehen, Unbehagen bereiten kann. Dieses Unbehagen eint zionistisches und postkoloniales Denken. In Israel gilt das Prinzip der Menschenwürde nicht wirklich. Es steht zwar im israelischen Grundgesetz, aber nur relativiert auf jüdische Souveränität. Ohne diese Relativierung hätte es gewaltige konstitutionelle Konsequenzen.
Eben. Es wäre ein komplett anderes Israel.
Israel würde ein jüdischer Staat, aber unter föderaler Konstellation, gelegen zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer, zwischen «the river and the sea», mit Menschen aus aller Herren Ländern und mit denselben Grundrechten. Dieser Staat würde in der Lage sein, seine eigenen Gesetze zu erlassen, aber seine Gesetze würden nicht in der Lage sein, die Grundrechte der Menschen auf dem gesamten Territorium zu verletzen. Im März organisiere ich mit einem Kollegen am Nobel-Friedensinstitut in Oslo eine Konferenz, mit Israeli und Palästinensern, die sich der Auseinandersetzung mit dieser Frage widmet.
Ist Benjamin Netanyahu das Kernproblem?
Nein. Aber ohne ihn wäre der Krieg wohl zu Ende, es hätte zumindest einen Waffenstillstand gegeben. Das wäre schon ein Fortschritt. Das Kernproblem ist, dass zwischen Jordan und Mittelmeer eine palästinensische Mehrheit seit Jahrzehnten unter einer gewalttätigen Besetzung und Unterdrückung zu leben hat. Und dass man für diese Mehrheit nie eine Lösung der Koexistenz gefunden hat. Die Zwei-Staaten-Lösung, die viele immer noch wie eine Monstranz vor sich hertragen, war nur eine Entschuldigung, um das Problem nicht zu lösen. Und jetzt stehen wir vor einer Katastrophe, zu der niemand eine wirkliche Alternative bietet. Manche scheinen zu denken, dass die Gewalt, die wir erleben, der realistischste Weg ist, die Dinge zu lösen. Das ist nicht nur ein krimineller Gedanke. Es ist ein krimineller Gedanke, der nichts mit der Realität zu tun hat.
Wie bezeichnen Sie das, was das israelische Militär im Gazastreifen macht?
Das ist eine Form der ethnischen Säuberung.
Aber bis zum Wort «Genozid» würden Sie nicht gehen?
Das muss der Internationale Gerichtshof entscheiden. Aber unglücklicherweise gibt es Hinweise auf einen Genozid. Äusserungen dieser Regierung deuten darauf hin. Und die Unterbindung der Wasser- und Lebensmittelversorgung, die systematische Zerstörung der Infrastruktur, mit der eine Gesellschaft sich versorgen kann, die Verhinderung humanitärer Hilfe, das Verbot des Palästinenserhilfswerks UNRWA – das alles zeigt, dass Israel die Möglichkeit eines Lebens in Gaza verunmöglichen will. Ich unterstütze seit einem Jahr voll und ganz den Aufruf, diese Regierung zum Aufhören zu zwingen.
Trotz allem: Eine Mehrheit der Menschen in Israel unterstützt dieses Vorgehen. Nie war die Zustimmung für Benjamin Netanyahu höher. Sind diese Menschen dumm?
. . . Hier bei NZZ weiterlesen