Sich über eine andere Sicht informieren
upg. Laut US-Präsident Donald Trump hat Präsident Putin die Ukraine in erster Linie deshalb angegriffen, weil Russland an seinen Grenzen weder die Nato noch US-Raketen haben will. Putins Ziel sei es nicht, die ganze Ukraine zu kontrollieren, geschweige denn den baltischen Staaten und Polen Land wegzunehmen.
Diese Ansicht teilt der langjährige ARD-Journalist Patrik Baab. Er hatte im Donbas von beiden Seiten der Front berichtet und befasst sich weiter intensiv mit dem Krieg. Es komme Europa teuer zu stehen, dass der Westen keine Rücksicht genommen habe auf die Sicherheitsbedürfnisse Russlands.
Gehen wir einmal davon aus, dass es Putin tatsächlich darum geht, die Nato und US-Raketen nicht an Russlands Grenzen heranzulassen – so wie die USA keine russischen oder chinesischen Militärstützpunkte in Lateinamerika wollen oder nicht einmal chinesische Firmen am Panamakanal akzeptieren.
Wenn das der Fall ist, braucht eine militärisch neutrale Ukraine keine weiteren Sicherheitsgarantien. Und das Aufrüsten in Westeuropa ist hinausgeworfenes Geld.
Die Nato und der militärisch-industrielle Komplex, der an Waffenverkäufen interessiert ist, sowie die von ihm finanzierten Think-Tanks sehen es anders und lobbyieren für eine massive Aufrüstung.
Um zu überzeugen, stellen sie die Vorgeschichte des Krieges einseitig dar. Und sie verbreiten in fast allen Medien, dass Russland ein imperialistisches Land sei, dass Putin die alte Sowjetunion wieder herstellen wolle und den Westen mit einem einseitigen Cyber- und Destabilisierungskrieg bedrohe. Russland ergreife jede nächste Gelegenheit, um nicht nur die ganze Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen, sondern auch um Polen und die baltischen Staaten anzugreifen. Gegen diese Gefahr müssten die Regierungen Europas aufrüsten.
Über diese Sichtweise informieren große Medien regelmäßig. Gegenargumente werden vorschnell weggewischt, weil sie von Putin stammen würden.
Als ARD-Reporter hatte Patrik Baab Zustände in Russland immer wieder kritisiert. Doch die westliche Darstellung zur Ukraine hält er in seinem Buch «Auf beiden Seiten der Front» für verzerrt und teilweise tatsachenwidrig. Dafür wurde er kritisiert und von Medien gemieden. Doch auch seine Sicht gehört – als Ergänzung zu dem, was wir aus großen Medien erfahren – in die öffentliche Diskussion. Deshalb dokumentieren wir im Folgenden längere Auszüge aus seinem Vortrag vom 15. Februar.
Das Telefonat von US-Präsident Donald Trump und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am 12. Februar 2025 war ein Paukenschlag. Man redet wieder miteinander auf Augenhöhe. Ein Treffen in Saudi-Arabien ist geplant. Der US-Präsident erklärte, er könne sich bald mit Putin treffen.1 Am 18. Februar sagte er auf «CNN», dass er die Europäer nicht am Verhandlungstisch haben will. Trump wörtlich:
«Ich werde mit niemandem verhandeln, der den Konflikt verlängern will. Ich werde mit niemandem verhandeln, der weitere Waffen schickt. Ich werde mit niemandem verhandeln, der versucht, weitere Munitionsinitiativen durchzusetzen. Ich werde mit niemandem verhandeln, der versucht, den Konflikt zu verlängern. Ich werde über den Frieden verhandeln, obwohl dieses Wort in der EU offensichtlich stark zensiert wird.»2
[Red. Im Sender «CNN» erklärte Präsident Trump am 26. Februar 2025: «Die Nato ist wahrscheinlich der Hauptgrund, weshalb das Ganze anfing.»]
US-Außenminister Marco Rubio traf seinen russischen Amtskollegen Lawrow in Riad. Die wichtigsten anvisierten Punkte:
- Feuerpause
- Neuwahlen in der Ukraine
- Friedensabkommen
Die Sanktionen können mit dem Friedensschluss aufgehoben werden. Die diplomatischen Beziehungen werden normalisiert.3 Beide Seiten versuchen, eine direkte Konfrontation zu vermeiden. Rubio erklärte, dass die Europäer schon irgendwann eingebunden würden, sie hätten ja schließlich Sanktionen verhängt.4 Zur deren Aufhebung ist Druck aus Washington erforderlich, da in Brüssel ein einstimmiger Beschluss herbeigeführt werden muss.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar wurden, wie mir ein Teilnehmer süffisant berichtete, über Nacht die Reden umgeschrieben. Der «Tages-Anzeiger» spricht von einem «radikalen Kurswechsel».5 Medien und deutsche Politiker sprechen von «Verrat».6
Vieles bleibt derzeit noch vage. Doch eines ist klar: Der Westen hat den Krieg in der Ukraine verloren. Die Kriegstreiber in der Politik prallen auf den harten Boden der Tatsachen. Grosse Medien werden aus ihrer Kriegshysterie herausgerissen wie ein schlafender Betrunkener, der mit einem Eimer kalten Wassers zur Ernüchterung gebracht wird.
US-Verteidigungsminister Pete Hegseth will den Wahn beendet, der den Krieg am Laufen gehalten hat. Die wesentlichen Eckpunkte:
- Die Ukraine wird die verlorenen Gebiete nicht zurückbekommen. Dies sei ein «unrealistisches Ziel».7
- Die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ist vom Tisch.8 Auch dies sei «kein realistisches Verhandlungsergebnis». Damit ist klar: Die Ukraine bleibt neutral.
- Die USA gewähren Kiew keine Sicherheitsgarantien. Es wird keine US-Truppen in der Ukraine geben. Sie sehen die Europäer in der Pflicht, nicht die Nato nach Art. 5 des Nato-Vertrages.9 Washington will den Krieg und seine Folgekosten europäisieren.
Weit über 100’000 Tote und noch viel mehr Schwerverletzte
Im grössten und blutigsten militärischen Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es Hoffnung auf Frieden. Noch wird an einer Frontlinie von mehr als 1300 Kilometern überall heftig gekämpft. Allein auf ukrainischer Seite dürften inzwischen 600’000 Soldaten gefallen sein, auf russischer Seite mehr als 100’000.
Mindestens so viele Menschen wurden schwer verletzt, haben Arme oder Beine verloren, wurden geblendet und verstümmelt, der Kiefer wurde ihnen weggeschossen. Sie bleiben zurück als Krüppel, schwer gezeichnet für des Lebens kläglichen Rest. Diese Schwerverletzten werden auch in der Berliner Charité behandelt.10 Haben Sie da in den Medien jemals ein Bild gesehen?
Auch dies ist kognitive Kriegsführung: Der Öffentlichkeit das wahre Gesicht des Krieges vorzuenthalten. Propaganda und Zensur sind zwei Seiten derselben Medaille.11
[Red. Laut «New York Times» vom 3. März hat der Ukraine-Krieg bisher über eine Million Tote und Schwerverletzte gefordert. Der gegenwärtige Drohnen-Krieg führe zu noch mehr Opfern als der anfängliche Artilleriekrieg.]
Meine etwas anderen Quellen
Ich werde versuchen, die geopolitische Lage einzuschätzen. Dabei werfe ich auch einen Blick zurück. Denn wer die Vergangenheit nicht kennt, kann ihre Folgen für die Zukunft nicht ermessen. Dies ist ein Kernproblem der aktuellen europäischen Politik.
Ich will nicht verschweigen, dass ich dabei in der Politischen Wissenschaft zumindest im deutschsprachigen Raum eine Minderheiten-Position vertrete. Im weltweiten Massstab sieht es allerdings etwas anders aus.12
Denn die Perspektive, welche grosse Medien verbreiten, ist in weiten Teilen der Nato-Propaganda geschuldet und auf die Nato-Länder unter Führung der USA, auf die EU, Japan, Australien und Neuseeland beschränkt. Diese Länder repräsentieren heute weniger als 20 Prozent der Weltbevölkerung.
Ich folge in meinen Überlegungen allerdings namhaften und international anerkannten Wissenschaftlern wie dem Geopolitik-Experten Glenn Diesen aus Oslo13, dem Aussenpolitik-Fachmann der Universität Chicago, Professor John J. Mearsheimer14, und dem US-Ökonomen Professor Jeffrey Sachs15 von der Columbia-Universität in New York. Weiter stütze ich mich auf den britischen Historiker Richard Sakwa16 und den Schweizer Militäranalysten Jacques Baud17 sowie den französischen Historiker Emmanuel Todd18.
Ich beginne mit einer Betrachtung der aktuellen Lage im Krieg in der Ukraine und versuche dann, den Hintergrund und die Auswirkungen des Geschehens zu erläutern.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt Folgen für die Zukunft auf
In diesem grössten europäischen Krieg seit Ende des Zweiten Weltkriegs wird die Ukraine derzeit zerstört. Das Land hat etwa 20 Prozent seines Territoriums verloren, seine Wirtschaft liegt in Trümmern, Millionen Menschen haben das Land verlassen: Betrug die Zahl der Einwohner 1991 noch 52 Millionen, so ist die Ukraine inzwischen bei 28 Millionen Einwohnern angekommen. Das Land hat Hunderttausende Tote und Schwerverletzte zu beklagen, und natürlich gibt es Millionen Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge.19
Die territorialen Verluste sind schmerzhaft und machen einen Wiederaufbau schwierig, weil die Ressourcen aus dem Donbas fehlen werden. Aber die Alternative ist nicht, die in die Russische Föderation aufgenommenen Gebiete zu verlieren oder sie zurückzuerobern. Die Alternative besteht nur noch darin, diese Territorien verloren zu geben oder noch mehr zu verlieren.
Die amerikanischen und europäischen Vorstellungen, Russland durch den Stellvertreterkrieg in der Ukraine eine strategische Niederlage beizubringen, wirken nun wie Asche im Munde westlicher Politiker. Dieser Stellvertreterkrieg des Nato-Westens gegen Russland auf dem Boden der Ukraine, von dem der frühere britische Premier Boris Johnson gesprochen hat, endet in einem Desaster.
Der Kreml betrachtet eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine als existentielle Bedrohung, genauso wie die USA auch russische Militärbasen oder Raketen in Mexiko nicht akzeptieren würden. Die Ukraine wird neutral bleiben. Damit hat sich Moskau durchgesetzt.
Der Versuch, die grösste Atommacht herauszufordern, offenbart den Grössenwahn des Westens, die Unfähigkeit, die Kräfteverhältnisse realistisch einzuschätzen. Wir können nun weiterträumen und die normative Kraft des Faktischen als russische Propaganda abtun, aber dies wird nur zu noch mehr Zerstörung führen. Der Realitätsverlust russophober Fanatiker in der politischen und medialen Elite des Westens ist der Hauptgrund für den hohen Blutzoll.
Die Zahl der Gefallenen und Schwerverletzten, also das, was Briten und Amerikaner «casualties» nennen, hat mit dem 1. September 2024 auf ukrainischer Seite wahrscheinlich die Millionengrenze überschritten. Die tatsächlichen Zahlen sind auf beiden Seiten streng geheim. Aber man kann aus der Auswertung der Todesanzeigen und Nachrufe entsprechende Rückschlüsse ziehen. Danach waren seit 2014 bis Anfang September 2024 mehr als 500’000 ukrainische Soldaten gefallen.21 Andere Schätzungen gingen bereits Mitte 2024 von 650’000 Gefallenen aus.22 Der ehemalige CIA-Analyst Larry Johnson beziffert die Gefallenen auf insgesamt 1,2 Millionen, zählt man die Schwerverletzten dazu, kommt er auf drei Millionen, eine ganze Generation junger Ukrainer.22a
Nicht ganz so hoch wären dann die Zahlen auf russischer Seite. Das regierungskritische, von dem Oligarchen Chodorkowski finanzierte Portal «Mediazona» hat ebenfalls Nachrufe und Todesanzeigen ausgewertet. Seine Analysten kamen am 13. September 2024 auf 69’059 Gefallene, wobei noch 19’547 Söldner der privaten Militär-Firma Wagner dazukommen, die allein im Fleischwolf von Bachmut getötet wurden – wie man aus der Statistik der Hinterbliebenenzahlungen weiss.23 Dies ergibt eine Todeszahl von etwa 90’000, rechnet man die Gefallenen der Milizen von DNR und LNR dazu, ergibt sich eine Zahl von etwa 120’000.24