💢5 - Grundgesetz und Demokratie: Die Würde des Menschen git auch über seinen Tod hinaus ..!
Die Auswirkungen mancher Akte der Selbstbestimmung reichen über den Tod hinaus und sind entsprechend zu achten. Menschenrechte sind Rechte von Lebenden, sie schützen und ermöglichen Lebensvollzüge. Von Rechten von Verstorbenen lässt sich nur insofern sprechen, als manche erworbenen Rechtsansprüche über den Tod hinausreichen, wie das Recht bestattet zu werden. Ein der Menschenwürde entsprechender Umgang mit den Toten ist vorrangig für die Hinterbliebenen von Bedeutung. Seine Verweigerung nimmt den Hinterbliebenen die Möglichkeit, ihren Frieden mit dem Verlust eines nahen Menschen zu finden. Der angemessene Umgang mit den Toten ist daher ein Recht der Lebenden. Die Kontexte Krieg, Migration und gewaltsames Verschwindenlassen machen deutlich, dass der unangemessene Umgang mit den Toten den sozialen Zusammenhalt, die normative Bindungskraft von Regeln und damit letztlich die gesellschaftliche Werteordnung gefährden.
Praktiken der Verweigerung des Respekts bis hin zur Entmenschlichung – z. B. verweigerte Bestattung, Schändung von Gräbern oder Leichnamen, aufgezwungene Ungewissheit über das Schicksal einer Person – sind Machtinstrumente, durch die die Lebenden eingeschüchtert und gesellschaftliche Ordnung destabilisiert werden sollen. Deshalb ist ein der Menschenwürde entsprechender Umgang mit den Toten von höchster gesellschaftlicher Relevanz. Es besteht Handlungsbedarf. Ein der menschlichen Würde angemessener Umgang mit den Toten ist sicherzustellen, um die Rechte der Hinterbliebenen zu achten und das normative Fundament der Gesellschaft nicht zu gefährden. Mit Forderungen und Empfehlungen wird dieser Handlungsbedarf an die Staatengemeinschaft, an Bund, Länder und Kommunen, sowie Kirche und Religionsgemeinschaften adressiert.
Alle Menschen sterben, und mit allen sollte auch in Sterben und Tod würdevoll umgegangen werden. Was in dem kurzen Zitat anlässlich der Begräbnisfeierlichkeiten zum Tod der Queen selbstverständlich erscheint, ist es in Wirklichkeit nicht: Ungleichheiten setzen sich über den Tod hinaus fort. Nicht jeder Mensch wird begraben oder bestattet. Das ist nicht nebensächlich. Das Bestatten von und Bestattet-Werden der Verstorbenen ist ein normativ gehaltvolles anthropologisches Grunddatum: Der Mensch ist jenes Lebewesen, das seine Verstorbenen bestattet – in welcher Form und mit welchem Zeremoniell auch immer.
Auch darin zeigt sich die Humanität menschlichen Lebens als eines Lebens in Beziehungen – auch jener zwischen den Lebenden und Verstorbenen. Der Umgang mit Verstorbenen ist für das Leben von Menschen, das ihrer Würde als Mensch angemessen ist, essentiell. Insofern stellt sich unmittelbar die Frage nach entsprechenden Menschenrechten – gelten sie doch als Bedingungen der Möglichkeit eines Lebens, das der Würde des Menschen entspricht. Dieser Frage widmet sich der vorliegende Beitrag. Er diskutiert den angemessenen Umgang mit den Verstorbenen als Frage nach den Rechten von Lebenden im Umgang mit ihren Verstorbenen sowie nach möglichen Rechten der Verstorbenen selbst. Es scheint zunächst ganz einfach: Menschenrechte sind Rechte von Menschen – und zwar von lebenden Menschen. Denn es ist das Leben jedes und jeder Einzelnen, das in seinen Vollzügen zu ermöglichen und zu schützen ist. Rechtssubjekte sind Menschen, die handeln können, die ihre Rechte einfordern können. Und Menschenrechte sollen ja gerade ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und schützen.
Ist die Beschäftigung mit Rechten von Verstorbenen und im Umgang mit Verstorbenen dann nicht ein Widerspruch? Zuallererst ist zu betonen, dass die Frage nach den Rechten im Umgang mit Verstorbenen gerade nicht die Frage nach der Bedeutung der Rechte von Lebenden abwertet oder gar ignoriert. Zum einen kann die Beschäftigung mit dem Umgang mit den Toten auch den Blick darauf lenken, was lebenden Menschen angetan wurde: nämlich in Fällen, in denen Menschenrechtsverletzungen den Tod mitbedingt haben und in einem Umgang mit den Toten, der der Würde des Menschen widerspricht, ihre Fortsetzung finden. Zum anderen verweist sie aber auf – weitgehend ungeklärte – Fragen, wie lange die Menschenrechte gelten und wen sie (mit-)betreffen. Die alltagsweltliche moralische Intuition kann hier wichtige Hinweise geben. Denn einerseits scheint es klar, dass Menschenrechte Rechte von Lebenden sind. Andererseits haben Menschen ein sehr deutliches Gespür dafür, dass es nicht richtig ist, verstorbene Menschen wie eine Sache zu behandeln: Wir entsorgen Tote nicht „auf dem Müll“ – allein die Vorstellung widerstrebt dem Moralempfinden. Es gibt also eine moralische Intuition, die uns sagt, dass „etwas“ nicht stimmen würde, wenn wir mit Verstorbenen so umgehen würden.
Diese Alltagsintuition lässt sich ethisch begründen und findet sich auch im Recht; Leichname werden z.B. nicht mit Sachen gleichgesetzt. Die moralische Intuition wird zudem gestützt durch eine Jahrtausende alte Kulturgeschichte, die die Frage des angemessenen Umgangs mit den Toten thematisiert (Bsp. Antigone). Es ist also keine neue Fragestellung, die wir hier aufgreifen. Zugleich ist das Thema praktisch und theoretisch von größter aktueller Relevanz. In den spätmodernen (westlichen) Gesellschaften sind Sterben und Tod kaum präsent; manche sprechen von einer Tabuisierung. Gerade in Krisensituationen wie der Corona-Pandemie oder dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine werden wir immer wieder unausweichlich mit dem Thema Tod und Sterben konfrontiert, sodass ein Verdrängen – zumindest für einen Moment – kaum möglich ist.
Durch die mediale Berichterstattung in der Pandemie erhielt der Tod, ohne direkt sichtbar zu sein, mit Bildern von Särgen und aus Kliniken doch mit ikonographischer Wucht starke Präsenz und berührte die Lebensrealität vieler. Besonders tragisch war in jenen ersten Monaten die Situation in vielen Einrichtungen der stationären Langzeitpflege: Der Schutz vor Ansteckung, und damit vor einer für die besonders vulnerable Gruppe höchst lebensbedrohlichen Infektion, führte zu weitreichenden Isolationsmaßnahmen. Das brachte mit sich, dass alte Menschen zu ihrem eigenen Schutz teils über sehr lange Zeiträume keinen Besuch empfangen durften und in manchen Fällen sogar allein sterben mussten. Diese einschneidende Erfahrung machte vielen Menschen bewusst, dass Sterben und Tod Teil des Lebens ist und als solcher gestaltet werden will. Und die Konfrontation mit der Erfahrung der Einsamkeit verdeutlichte, wie sehr Sterben ein Beziehungsgeschehen ist oder sein sollte.
Auch durch den Krieg in der Ukraine sind Tod und Sterben stärker in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit in unserer Gesellschaft gelangt, denn die Gefahr, im Krieg getötet zu werden, ist (geographisch) näher gerückt. Sich selbst in Todesgefahr begebend, bergen Menschen im Kriegsgebiet Leichen, damit sie bestattet werden können und Hinterbliebene Gewissheit erlangen. Anderen bleibt diese Möglichkeit versagt. Die Bedeutung des Umgangs mit den Toten wird auf traurige Art erfahrbar. In anderen Ländern waren und sind diese Themen dauerhaft präsent. So stellt sich die Frage nach einem angemessenen Umgang mit den Toten im Kontext von Konflikten und von gewaltbelasteter Vergangenheit sehr drastisch und auf verschiedene Weise: Wenn die Schändung oder auch die Unsichtbarmachung von Toten als Machtmittel eingesetzt wird, um die Bevölkerung zu schwächen und zu demütigen; wenn Menschen bewusst in belastender Ungewissheit gelassen werden, ob ihre Angehörigen leben oder tot sind (Verschwindenlassen); wenn Gräber geschändet oder Gedenkstätten zerstört werden, wenn sie nicht zugänglich sind oder Verstorbene gar nicht bestattet werden können (z.B. Geflüchtete, die im Mittelmeer ertrunken sind); wenn die Verweigerung eines angemessenen Umgangs mit den Toten, etwa einer bestimmten Bestattungsform, als Ausdruck religiöser Diskriminierung eingesetzt wird.
In diesen und anderen Situationen drängt sich die Frage nach den Menschenrechten im Umgang mit Verstorbenen auf. Mit diesen Phänomenen sind viele grundsätzlich-konzeptionelle Fragen – moralische und juristische – verbunden. Denn es gilt zu bestimmen, wie sie sich zu der Überzeugung, dass Menschenrechte Rechte von Lebenden sind, verhalten. Es gilt zu klären, um wessen Rechte es eigentlich geht. Denn berührt sind Würde und Rechte der Verstorbenen selbst sowie der Hinterbliebenen – und zugleich geht es immer auch um die menschenrechtlichen Standards einer Gesellschaft. Aber was genau heißt das? Und wie wirkt sich das auf die Gesellschaft und auf einzelne Gemeinschaften aus? Diese und weitere Fragen sind zu erörtern. Ziel ist es zu klären, welche Rechte und wessen Rechte auf dem Spiel stehen, um in einem nächsten Schritt prüfen zu können, welche rechtlichen und politischen Schritte nötig sind, um sie hinreichend zu schützen oder überhaupt erst zur Geltung zu bringen. Dies ist nötig, weil das Thema bislang kaum bearbeitet wird – mehr noch: nicht einmal als bedeutsam erkannt wird. Diese Publikation stellt in diesem Sinne also den Auftakt zu weiteren Überlegungen dar, keinen Endpunkt. Sie will den ethischen Diskurs weiterführen und zu handlungsrelevanten Erkenntnissen gelangen. Über die ethische Dimension hinaus ist auch die rechtliche zu erörtern; geht es doch darum, wie Menschenrechte geachtet, geschützt und gewährleistet werden.
Welche Verpflichtungen haben die Staaten und die Staatengemeinschaft? Es wird also einerseits dargelegt, welche relevanten Rechtsvorschriften es diesbezüglich gibt, andererseits ist aber auch freizulegen, welches Verständnis vom Rechtssubjekt darin zum Ausdruck kommt und wie sich dieses womöglich verändert hat. Auch religiöses Wissen fließt ein, denn es sind seit jeher v.a. die Religionen, die sich mit den Fragen beschäftigen, die den Tod transzendieren. Auch wenn diese Publikation nicht die Frage beantworten kann, was das in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft bedeutet, gilt es doch, die religiös-kulturelle Sensibilität für Fragen nach Sterben und Tod in der menschenrechtlichen Diskussion zu berücksichtigen.
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