❗😡❗🚩AfD weiß es und verschweigt es: Die Judenfeindschaft und der Antisemitismus Wilhelms II. bis zum Jahr 1918
- Anmerkung: Die Fußnoten mit teilweise sehr wichtigen Ergänzungen, sowie die Literaturangaben sind im Original (dessen Text im Folgenden wiedergegeben wird) des "Wissenschaftlichen Dienstes" des Deutschen Bundestages zu lesen: Antisemitismus_in_Preusen_und_dem_Deutschen_Kaiserreich-1.pdf
Im seit 1871 bestehenden Deutschen Kaiserreich - dies gilt auch für die Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. (1859-1941) von 1888 bis 1918 – bewahrte der Staat nach außen hin Neutralität. So garantierte er zum Beispiel den Juden wie allen Bürgern Freiheit und Eigentum und gewährte ihnen gegen antisemitische oder antijüdische Ausschreitungen – die allerdings eher selten vorkamen - polizeilichen und militärischen Schutz.1 Die in Deutschland insbesondere seit den Stein-Hardenbergschen Reformen2 und in Folge der Revolution von 1848 schrittweise fortschreitende bürgerliche Emanzipation der deut- schen Juden setzte sich auch im Kaiserreich fort. Allerdings blieb den jüdischen Bür- gern die vollständige formale Gleichberechtigung versagt. Innerhalb seiner eigenen Sphäre gab der Staat seine Neutralität praktisch auf und benachteiligte die jüdischen Deutschen.3 Formelle wie informelle Schranken versperrten ihnen den Zugang u.a. zu den Hof- und Regierungsämtern, zur höheren Verwaltung, dem diplomatischen Korps, der akademischen Welt oder dem Offiziersamt. Die Reichsverfassung garantierte zwar die Gleichberechtigung der jüdischen Bürger, beließ aber weitgehende Kompetenzen bei den Ländern. In Preußen zum Beispiel berief man sich bis zum Jahr 1918 auf die Verfassung von 1850, welche jüdische Bürger von der höheren Verwaltung und dem Offiziersamt ausschloss. In der Gesellschaft des Kaiserreichs waren die deutschen Juden – die ca. ein Prozent der Reichsbevölkerung stellten –weiterhin antijüdischen Vorbehal- ten und Vorurteilen sowie informellen Diskriminierungen ausgesetzt. Erst die Weimarer Verfassung von 1919 sollte den Juden in Deutschland die völlige formale Gleichberechtigung gewähren4, ohne dass damit die gesellschaftlichen Diskriminierungen beendet gewesen wären.
Seit Ende der 1870er Jahre steigerten sich in Teilen der Gesellschaft des Kaiserreiches die nach wie vor vorhandenen Vorurteile und Aggressionen gegen Juden zu einem ras- sistisch geprägten Antisemitismus, der in seiner letzten Konsequenz darauf abzielte, die „Semiten“ und damit die Juden physisch zu vernichten. Journalisten wie Wilhelm Marr (1819-1904), Universitätsprofessoren wie Heinrich von Treitschke (1834-1896) oder Geistliche wie der Hof- und (Berliner) Domprediger Adolf Stöcker (1835-1919) waren wichtige geistige Wegbereiter eines Antisemitismus, der auch zu einem politischen Fak- tor wurde und sich im Verlauf des Kaiserreiches zu einer organisierten Massenbewe- gung entwickelte. Stöckers im Jahr 1878 gegründete „Christlich-Soziale Arbeiterpartei“ war die erste antisemitische Partei im Kaiserreich, der andere antisemitisch eingestellte Parteien folgten, die – wenn auch in geringer Stärke - in verschiedene Länderparlamente wie auch in den Reichstag mit eigenen Abgeordneten einzogen. Bedeutende Tageszei- tungen des Kaiserreiches wie die konservative Kreuzzeitung oder die katholisch orien- tierte „Germania“ führten seit Mitte der 1870er Jahre zusammen mit Antisemiten Kam- pagnen aus Feindschaft gegen den „jüdischen Liberalismus“.5
Wenn auch dem parteipolitischen Antisemitismus im Kaiserreich nur wenig Erfolg be- schieden war, so wurde verstärkt seit der Jahrhundertwende der Antisemitismus in Deutschland programmatischer Bestandteil von zahlreichen einflussreichen und mit- gliedsstarken Vereinen und Verbänden wie dem aus der deutschen Kolonialbewegung hervorgegangenen „Alldeutschen Verband“ (ADV) oder dem „Reichshammerbund“. Auch der „Bund der Landwirte“ (BdL), der „Deutschnationale Handlungsgehilfen- Verband“ (DHV)6 sowie studentische Korporationen und Burschenschaften bekannten sich zum Antisemitismus. So nahmen zum Beispiel die Burschenschaften seit ihrem Burschentag von 1896 keine Juden mehr auf. Traditionell antisemitisch eingestellt war im Kaiserreich auch das Offizierskorps.7
Die radikalen Forderungen der antisemitisch geprägten Gruppierungen des Kaiserrei- ches, wie zum Beispiel nach Einschränkung der Bürgerrechte der deutschen Juden – u.a. Ausschluss aus dem Öffentlichen Dienst und der Armee oder der Entzug des Wahl- rechts - hatten bei Wilhelm II. keine Aufsicht auf Erfolg.8 Wilhelm II. pflegte zudem regelmäßige Kontakte zu führenden Persönlichkeiten des jüdischen Lebens aus der Wirtschafts- und Finanzwelt sowie dem Wissenschaftsbereich - wie zum Beispiel mit dem Reeder Albert Ballin oder dem Industriellen Walter Rathenau. In den Universitäten ernannte er zahlreiche jüdische Wissenschaftler zu Professoren.9
Auf der anderen Seite sind von Wilhelm II. auch Verhaltensweisen und Äußerungen bekannt, die ein eher ambivalentes Bild seines Verhältnisses zu Juden bereits während seiner Regierungszeit erkennen lassen. So setzte er sich als junger Kronprinz im Jahr 1885 bei seinem Großvater, Kaiser Wilhelm I., für den bereits erwähnten Hof- und Domprediger Adolf Stöcker ein, der zu diesem Zeitpunkt in einem von einem jüdischen Zeitungsredakteur angestrengten Prozess wegen Beleidigung verurteilt worden war und daher nach dem Willen von Kaiser Wilhelm I. seine Stellung als Hofprediger aufgeben sollte. Prinz Wilhelm, der drei Jahre später als Wilhelm II. Kaiser wurde, schrieb am 5. August 1885 mit Erfolg an seinen Großvater: „Du wirst […] gelesen und gehört haben von der ganz unverantwortlichen und verwerflichen Weise, in welcher das gesammte Judenthum des Reiches, durch seine verdammte Presse unterstützt, sich auf den armen Stöcker stürzt und ihn mit Beleidigungen, Verläumdungen und Schmähungen überhäuft und ihm schließlich den großen Monsterprozess an den Hals gehängt hat. […] Jetzt […]
{nach dem} Ausspruch des leider zu verjudeten Gerichtes [ist ein] wahrhafter Sturm der Entrüstung und Wuth in allen Schichten des Volkes entfesselt. […] Man glaubt es nicht, dass in unsrer Zeit solch ein Haufen Gemeinheit, Lüge und Bosheit sich zusammenfin- den kann. Von allen Seiten brieflich aus der Ferne und Nähe tönt es mir entgegen ‚Ist der Kaiser davon orientiert? Weiß er wie es steht? Wie die Juden – hinter ihnen Socia- listen und Fortschritt – alles dransetzen um Stöcker zu stürzen?’ Ja man sagt die Juden hätten es versucht sich im Kreise der Hofpersonen Freunde zu erwerben und dadurch bei Dir auch gegen Stöcker zu agiren! […] Stöcker ist […] die mächtigste Stütze, ist der tapferste, rücksichtslose Kämpfer für Deine Monarchie und Deinen Thron im Volk! […] O lieber Großpapa, es ist empörend wenn man beobachtet wie in unserem christlichen, deutschen, gut preußischen Lande das Judenthum in der schamlosesten, frechsten Weise sich erkühnt, alles verdrehend und corrumpirend sich an solche Männer heran zu wagen und sie zu stürzen sucht.“10 Die Abberufung Stöckers als Hof- und Domprediger erfolg- te schließlich im Jahr 1890 durch Wilhelm II. in einem anderen Zusammenhang.
Ein weiteres Beispiel für den Umgang Wilhelms II. mit dem Thema Juden und Antise- mitismus war das Verhältnis des Kaisers zum völkisch-nationalen Schriftsteller und Kulturphilosophen Houston Stewart Chamberlain (1855-1927). Um die Jahrhundert- wende pflegte er mit ihm eine langjährige Korrespondenz, und über das im Jahr 1901 erschienene Hauptwerk des antisemitischen Schriftstellers und Schwiegersohns Richards Wagners „Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts"11 äußerte er sich begeistert und machte es zur Pflichtlektüre bei der Oberlehrerausbildung bzw. an preußischen Lehrerseminaren.12
Schließlich ist für den Zeitraum der Regierungszeit von Wilhelm II. eine antisemitische Äußerung dokumentiert, die er bei einem Besuch in Großbritannien gegenüber dem damaligen Außenminister Sir Edward Grey fallen ließ: „Es gibt viel zu viele Juden in meinem Land. Sie müssten ausgemerzt werden.“13
Der Antisemitismus nahm insgesamt in den rund vier Jahrzehnten von der Reichsgrün- dung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Staat und Gesellschaft stark zu. Zwar gehörten Ausschreitungen gegen jüdische Bürger- wie zum Beispiel 1881 im hinter- pommerschen Neustettin oder 1900 im westpreußischen Konitz – nicht zum Alltägli- chen, aber der Antisemitismus gewann erheblichen Einfluss bei vielen politischen und gesellschaftlichen Organisationen im Kaiserreich und spielte eine wichtige Funktion im Denken des national gesinnten Bürgertums. Er wurde im gesellschaftlichen Leben zur sozialen Norm.14
Wilhelm II., der seit 1888 König von Preußen und deutscher Kaiser war, musste in Folge der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg abdanken. Nachdem die Spitzen der Obersten Heeresleitung, u.a. auch Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, Wilhelm II. nicht von der Notwendigkeit eines Rücktritts überzeugen konnten, verkündete am 9. November 1918 in Berlin Reichskanzler Prinz Max von Baden vor dem Hintergrund der Kriegsniederlage und der ausgebrochenen Novemberrevolution15 eigenmächtig, ohne eine Entscheidung des zögernden Kaisers abzuwarten, die Abdankung Kaiser Wilhelms II. Dieser floh daraufhin am 10. November 1918 vom „Großen Hauptquartier“ der Obersten Heeresleitung (OHL) in Spa (Belgien) in die benachbarten Niederlande, wo ihm von der dortigen Regierung Exil gewährt wurde. Am 28. November 1918 unterzeichnete er offiziell seine Abdankungsurkunde, in der sowohl auf das Amt des deutschen Kaisers als auch auf das des Königs von Preußen verzichtete.16 In den fol- genden Jahren seines Exils lebte Wilhelm II. - nach einem ersten Aufenthalt auf Schloss Amerongen bis zum Mai 1920 - bis zu seinem Tod im Jahr 1941 im „Haus Doorn“ in der Nähe von Utrecht und kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück. Faktisch inter- niert, konnte er nur Besuch in Doorn empfangen.
Wilhelm II. hatte trotz der sich abzeichnenden militärischen Niederlage Deutschlands bis zum November 1918 an der Illusion festgehalten, er könne an der Macht bleiben. Überzeugt von seinem „Gottesgnadentum“, war er zudem von sich aus nicht zu einem Rücktritt bereit. Aus dem selben Grund untersagte er auch seinen Söhnen sowie seinen Enkeln die Übernahme seiner Funktion als Kaiser und König. Insbesondere von jenen Macht- und Funktionsträgern des Deutschen Reiches, welche die Monarchie erhalten wollten, war der Rückritt des Kaisers zugunsten eines Mitglieds der kaiserlichen Fami- lie als Nachfolger als eine mögliche Option in Erwägung gezogen worden.17
Wilhelm II. betrieb in seinem Exil keinerlei kritische Aufarbeitung eigener Fehler oder Versäumnisse seiner Regierungszeit. Zu einer kritischen Auseinandersetzung, welchen Anteil seine Politik zum Beispiel am Ausbruch des I.Weltkrieges und der deutschen Kriegsniederlage hatte, war er nicht willens. Er lehnte die Übernahme persönlicher Schuld an Krieg und Niederlage ab. Stattdessen behauptete er, von anderen belogen und verraten worden zu sein.18
Diese „Anderen“ waren für Wilhelm II., zumindest in den Tagen nach seiner Flucht ins Exil, laut seinem Tagebuch zunächst einmal die von ihm selber berufenen Repräsentan- ten seiner zivilen und militärischen Kabinette: „Dreißig Jahre habe ich nun diese wahn- sinnige Verantwortung auf mir, dreißig Jahre habe ich meine ganze Kraft fürs Vaterland eingesetzt. Dies ist nun der Erfolg, dies der Dank. Nie hätte ich geglaubt, dass die Mari- ne, mein Kind, mir so danken würde. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass meine Armee sich so schnell zersetzen würde. Alle haben mich im Stich gelassen, für die ich so viel getan! Ludendorff, Bethmann19 und Tirpitz20 sind daran Schuld, dass wir den Krieg verloren haben!“21
Wilhelm II. lehnte –wie auch die meisten deutschen Adligen - die parlamentarische Demokratie von Weimar vollends ab und stand in entschlossener Feindschaft zu ihr. Das galt auch für die politischen Parteien, die sich der Weimarer Demokratie verpflich- tet fühlten. Seine Verachtung galt insbesondere der deutschen Sozialdemokratie, die er bereits während seiner Regierungszeit als Kaiser beschimpft und bekämpft hatte. Wäh- rend seines gesamten Exils verfolgte er die Absicht, selber wieder auf den Thron zu- rückkehren und die Hohenzollernmonarchie in Deutschland fortzuführen.22 Ausdruck dieser Denkweise war auch, dass er seine Briefe weiterhin mit „IR“ (Imperator Rex) paraphierte. Während seines Exils war Wilhelm II. von Seiten der niederländischen Re- gierung eine politische Betätigung verboten worden. Das hielt aber weder ihn noch wei- tere im Exil lebende Familienmitglieder davon ab, mit den monarchistischen, republik- feindlichen, völkischen sowie rechtsnationalen Verbänden, Gruppierungen oder Partei- en der Weimarer Republik intensiven Kontakt zu pflegen. Dabei waren die Kriegs- schuld, der Ausbruch der Revolution im November 1918 mit dem Sturz der Hohenzol- lernmonarchie und der anderen Fürstenhäuser sowie der Friedensvertrag von Versailles zentrale Themen. Wilhelm II. erhoffte sich insbesondere von diesen immer noch die Monarchie unterstützenden Kräften in der Weimarer Republik eine aktive Unterstüt- zung für seine Rückkehr auf den Kaiser- und Königsthron.23
Wilhelm II. verbreitete, wie seine zahlreichen rechtsnationalen und antidemokratischen Freunde, die nach 1918 von ihnen selber zur Diffamierung der demokratischen Kräfte von Weimar in die Welt gesetzte Dolchstoßlegende. Ihr zufolge seien insbesondere die sozialdemokratischen, liberalen und zentrumskatholitischen Politiker sowie die sozialis- tische Rätebewegung dem „im Felde unbesiegten“ Heer während des Krieges in den Rücken gefallen, so dass diese Kräfte die deutsche Kriegsniederlage sowie die Beendi- gung der Hohenzollernmonarchie zu verantworten hätten. Eine weitere Facette dieser Legende war, dass das „siegreiche“ Heer, in Frankreich und Russland stehend, von den
„Novemberrevolutionären“ im Stich gelassen worden sei. Paul von Hindenburg, am 18. November 1919 von einem Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung zu den Ursachen des militärischen Zusammenbruchs befragt, sprach wider besseres Wissen nicht nur von einer heimlichen und planmäßigen "Zersetzung von Flotte und Heer", sondern behauptete auch (sich auf einen englischen Offizier berufend), dass die deut- sche Armee "von hinten erdolcht worden" sei. 24
Diese völlige Verdrehung der historischen Tatsachen – es waren Hindenburg und Ludendorff von der OHL, die seit Spätsommer 1918 angesichts der alliierten Militärüberlegenheit an der Westfront auf einen Waffenstillstand sowie eine Parlamentarisierung Deutschlands gedrängt hatten - fiel in der Weimarer Republik bei vielen Menschen, Institutionen und insbesondere bei Parteien wie der DNVP sowie der NSDAP auf fruchtbaren Boden. Verstärkt wurde die Wirksamkeit der „Dolchstoß – Legende“ im Übrigen dadurch, dass nicht die tatsächlich für die militärische Niederlage verantwortli- chen Personen wie Hindenburg, Ludendorff oder Kaiser Wilhelm II, die abgesetzt oder zurückgetreten waren, für die Konsequenzen haftbar gemacht wurden, sondern die ihnen nachfolgenden demokratischen Politiker und Parteien der Weimarer Republik. Sie mussten den Versailler Friedensvertrag unterschreiben, den „Schandvertrag“, dessen Inhalt (u.a. Gebietsabtretungen, Anerkennung einer alleinigen Kriegsschuld Deutsch- lands, Reparationen) schon bald die hasserfüllte Projektionsfläche für die Gegner von Weimar aus dem rechtsnationalen und völkischen Bereich bildete.25 Die Dolchstoßle- gende wurde auch vom Exkaiser, ungeachtet der tatsächlichen historischen Fakten und Abläufe, die ihm bekannt waren26, vertreten: „Nach über vier glänzenden Kriegsjahren mit unerhörten Siegen“ musste die Armee „unter dem von hinten gegen sie geführten Dolchstoß der Revolutionäre zusammenbrechen, gerade in dem Augenblick, als der Friede in Greifnähe stand!“27
Wilhelm II. machte in diesem Zusammenhang, bei weitem nicht als Einziger in der Weimarer Republik,28 auch das deutsche und „internationale“ Judentum für die Nieder- lage im I. Weltkrieg und die nachfolgenden Ereignisse des November 1918 verantwort- lich. Dabei sprach er auch von einer Weltverschwörung von „Juden, Freimaurern und Jesuiten.“ Sein Sturz sei das Werk der „Weisen von Zion“29 gewesen, der Weltkrieg sei durch jüdische Freimaurerlogen in Frankreich, England und Italien angezettelt worden.30 Seine nach 1918 geäußerten Aversionen gegen die deutschen Juden sind, trotz
bestehender Lücken bei den schriftlichen Nachlässen von Wilhelm II., in zahlreichen Fällen dokumentiert. Insbesondere seit den 1990er Jahren konnte so das bis dahin ge- wonnene historische Bild Wilhelms II., er sei weder antijüdisch noch antisemitisch ein- gestellt gewesen, revidiert werden. Gerade mittels seiner Briefe an Vertraute, mit Hilfe von Tagebucheinträgen oder den Erinnerungen anderer Personen lassen sich Äußerun- gen von ihn dokumentieren, die – entgegen seiner öffentlichen Äußerungen – eine ge- gen Juden gerichtete Sprache der Verachtung und Gewalt erkennen lassen, hin zu einem Antisemitismus der Vernichtung.31
In einem Brief vom 2. Dezember 1919 an seinen einstigen Flügeladjutanten August von Mackensen kritisiert er – sich auf seine Abdankung beziehend - die Beteiligung von deutschen Juden – wie zum Beispiel des (U)SPD-Politiker Kurt Eisner in Bayern - an der Novemberrevolution 1918: „Die tiefste und gemeinste Schande, die je ein Volk in der Geschichte fertiggebracht, die Deutschen haben sie verübt an sich selbst. Angehetzt und verführt durch den ihnen verhassten Stamm Juda, der Gastrecht bei ihnen genoss! Das war sein Dank! Kein Deutscher vergesse das je, und ruhe nicht bis diese Schmarot- zer vom Deutschen Boden vertilgt und ausgerottet sind! Dieser Giftpilz am Deutschen Eichbaum!“32
Am 12. August 1920 schreibt er an denselben Adressaten einen thematisch ähnlich ge- lagerten Brief. Danach sei die Revolution von 1918 ein „Verrath des von dem Judenge- sindel getäuschten belogenen Deutschen Volkes gegen Herrscherhaus und Herr!“ gewe- sen, und er warnt: „Es wird schwer gestraft!“33
Ebenfalls aus dem Jahr 1920 stammt eine Äußerung des ehemaligen Kaisers, die von seinem Leibarzt Alfred Haehner nach einem Gespräch mit Wilhelm im Tagebuch fest- gehalten wurde. Man werde schon sehen, habe der Exilant gesagt, »wenn er zurück- komme, was dann für ein Pogrom veranstaltet werde, aber anders und wirksamer wie alle die in Galizien.“34
Insbesondere in der ersten Hälfte der 1920er Jahre publizierte Wilhelm II. mehrere ten- denziöse und historisch unkorrekte Bücher, die in Deutschland veröffentlicht wurden. Mit diesen Publikationen wollte er unter anderem nachweisen, dass er und das Reich keine Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges trügen, sondern viel- mehr die Alliierten den kriegerischen Konflikt verursacht hätten. Zudem versuchte er zu beweisen, dass die Monarchie im Herbst 1918 primär von Reichskanzler Prinz Max von Baden und den „sich als Bolschewiki entpuppenden“ Sozialdemokraten zerstört worden sei. Zu seinen Publikationen gehörten die 1921 erschienen „Vergleichende Ge- schichtstabellen von 1878 bis zum Kriegsausbruch 1914“35, die 1922 auf den Markt gebrachten Memoiren „Ereignisse und Gestalten. 1878-1918“ sowie die im Jahr 1927 erschienen Memoiren „Aus meinem Leben. 1859-1888“.36
Auch im weiteren Verlauf der 1920 Jahre trat der Exkaiser – im kleinen Kreis – mit antisemitischen Äußerungen hervor. Unter der Losung „Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?“ machte er in seiner Predigt im Haus Doorn, an denen unter anderem seine Hausangestellten teilzunehmen hatten, am 6. Juni 1926 zum wiederholten Male das Judentum für den militärischen Niedergang und den Zusammenbruch von 1918 ver- antwortlich: Die Niederlage sei „Von rückwärts, von Zuhause, von Judas Geld“ bewirkt worden. „Während unter Mir, Meinen Generalen und Offizieren, das tapfere Frontheer die Siege erfocht, verlor das Volk zu Haus, von Juden und Entente belogen, bestochen, verhetzt, mit seinen unfähigen Staatsmännern den Krieg.“37
In einem Brief an einen amerikanischen Freund – Poultney Bigelow - im Jahr 1927 wird der Antisemitismus von Wilhelm II. ebenfalls deutlich: „Die hebräische Rasse ist mein Erz-Feind im Inland wie auch im Ausland; sind was sie sind und immer waren: Lügen- schmiede und Drahtzieher von Unruhen, Revolution und Umsturz, indem sie mit Hilfe ihres vergifteten, ätzenden, satirischen Geistes Niederträchtigkeit verbreiten. Wenn die Welt einmal erwacht, muss ihnen die verdiente Strafe zugemessen werden.“38
Im selben Jahr schrieb er an denselben Adressaten: „Die Presse, Juden und Mücken“ (…) seien „eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muss“. Dabei fügte er eigenhändig hinzu: „Ich glaube, das Beste wäre Gas.“39
Auch jene jüdischen Deutschen, zu denen Wilhelm II. während seiner Regierungszeit freundlichen Kontakt gepflegt hatte, kritisierte er rückblickend im Jahr 1940: „Ich habe Juden zu Tisch gehabt, Judenprofessoren unterstützt und ihnen geholfen, die Antwort war klar: Hohn, Spott, Weltkrieg, Verrat, Versailles und Revolution“.40
Das Verhältnis von Wilhelm II. zu den Nationalsozialisten wird in der historischen Forschung als insgesamt eher reserviert bezeichnet, wobei aber darauf verwiesen wird, dass er die Machtübertragung im Jahr 1933 an die Nationalsozialisten und deren Abschaffung der parlamentarischen Demokratie von Weimar begrüßt hatte. Er verband mit den Nationalsozialisten zunächst auch die konkrete Hoffnung, durch sie wieder die Monar- chie in Deutschland einführen und damit persönlich auf den Thron zurückkehren zu können. Die Nationalsozialisten hatten vor 1933 gegenüber Wilhelm II. und monarchis- tischen Kreisen aus taktischen Gründen einen derartigen Eindruck erweckt.41 Schon bald nach der Machtübertragung – spätestens nach der Vereinigung des Amtes und der Befugnisse des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten im August 1934 – erfolgte offenbar eine Ernüchterung dieses Verhältnisses von Seiten Wilhelms II.42 Die Juden- verfolgung der Nationalsozialisten verurteilte der Ex-Kaiser. So hatte er – allerdings nicht öffentlich - die Pogromnacht vom 9. November 1938 als „Schande“ bezeichnet, gegen die die Reichswehr einschreiten solle.43
Neben seiner zweiten Ehefrau44, Prinzessin Hermine Reuß, war es der viertälteste Sohn von Wilhelm II., Prinz August Wilhelm von Preußen, der sich zunächst aktiv den anti- demokratischen und deutschnationalen Kräften in der Weimarer Republik anschloss, ehe er der NDASP sowie der SA beitrat. Er war u.a. Spitzenkandidat der NSDAP für die preußischen Landtagswahlen im April 1932 und engagierte sich an herausragender Stelle für die Nationalsozialisten. Mit seinem Engagement öffnete er den Nationalsozia- listen auch jene Kreise des Adels, die zuvor dem Nationalsozialismus noch abwartend gegenüberstanden hatten. Schon bald, nach dem „Röhmputsch“45 im Juni 1934, wurde der Prinz von den Nationalsozialisten fallengelassen.
In der historischen Forschung wurde auf die Frage, warum Wilhelm II. die Schuld für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die Niederlage Deutschlands, den Ausbruch der Revolution im November 1918 und seine Abdankung insbesondere bei den Juden such- te, bisher keine ausreichende Antwort gefunden. Einen Erklärungsversuch liefert in die- sem Zusammenhang Christian Graf von Krockow, der darauf hinweist, dass die Positio- nen Wilhelms II. in diesen Fragen keine Einzelmeinungen waren, sondern sozusagen das Denken der Mehrheit der antirepublikanischen Kräfte wiedergeben– sowohl das der ehemaligen kaiserlichen Machteliten als auch das der Vorläufer der nationalsozialisti- schen Bewegung: „(...) Überall, nur nicht bei sich selbst, suchte er nach den Schuldigen seines Sturzes. Und immer noch im fatalen Einklang mit den Strömungen der Zeit spielten dabei „die Juden“ eine wachsende Rolle (...).“47 Bei der historischen Beurteilung der Person Wilhelms II. weisen verschiedene Autoren auch darauf hin, dass der letzte Kai- ser der Deutschen eine schwierige Persönlichkeitsstruktur besaß. Sein politisches Den- ken sei keiner stringenten Form gefolgt. In seinen privaten und öffentlichen Äußerun- gen wie auch in seiner gesamten Regierungspolitik habe er häufig geschwankt. „Sein labiler Charakter“ galt auch für sein Verhältnis zu den deutschen Juden.48
John C. G. Röhl, der mit seinen zahlreichen Publikationen – insbesondere seinen auf intensivem Aktenstudium beruhenden Biographien – über Wilhelm II. mit zu den besten Kennern des letzten Kaisers gehört49, ist der Auffassung, dass judenfeindliche Einstel- lungen und Antisemitismus in der Weltanschauung von Willhelm II. eine sehr bedeu- tende Stellung einnahmen. Bis in die 1990er sei man in der historischen Forschung noch mehrheitlich davon ausgegangen, so Röhl, dass Wilhelm II. kein Antisemit gewesen sei. Das heute zur Verfügung stehende historische „Beweismaterial“ beweise aber das Ge- genteil. Insbesondere in seinem Exil habe Wilhelm II. seine bereits während der Regierungszeit bestehenden – aber nur privat geäußerten - Ressentiments gegenüber Juden zu seinem auf physische Vernichtung abzielenden Antisemitismus weiterentwickelt.