"Ein Verhalten, das in Würde gehüllt ist ..."
Eine adrett und fein gekleidet Dame geht grazil über den Wochenmarkt ihrer Stadt und gelangt an einen von Kunden verwaisten Verkaufsstand, hinter dem eine einfach gekleidete Frau sitzt. Vor ihr die Eier, die sie gedenkt, heute zu verkaufen.
"Wie teuer sollen ihre Eier denn sein?" fragt Madam etwas herablassend die Marktbeschickerin. Die aber antwortet: "Dreißig Cent pro Ei, gnädige Frau". Daraufhin meint die fein Gekleidete: "Ich nehme zehn Eier für 2,50 Euro - oder ich gehe." Die Verkäuferin steht auf, beginnt die zehn Eier zusammenzustellen und antwortet: "Kaufen Sie die Eier zu dem Preis, den Sie wollen, Madam. Es ist ein guter Anfang für mich, weil ich heute bisher kein einziges Ei verkauft habe und ich aber jeden Cent zum Leben brauche."
In der Tiefgarage unter der Stadt angekommen, stieg sie in ihr elegantes Auto und fuhr mit heruntergelassenem Faltdach und voguer Sonnenbrille auf dem braun gebrannten Gesicht zu ihrer Freundin, um mit ihr in der nächst gelegenen angesagten Lokation zu Mittag zu speisen. Beide bestellten, was sie wollten. Sie aßen nur ein wenig von den reich gefüllten Tellern, ließen den Rest zurück und tranken vergnüglich ihren Prosecco.
Für den Chef der Lokation war das schon fast selbstverständlich und normal, denn er erlebte so etwas von seinen Gästen des Öfteren. Vermutlich aber ist ihm nicht bekannt, dass "Madam" gerade eine Stunde zuvor, jene am Rande ihrer Existenz lebende Frau auf dem Wochenmarkt um 50 Cent geprellt hatte.
In diesem Zusammenhang kommt mir mein alter Herr, mein Vater, in Erinnerung. Er kaufte bei fast jeder Gelegenheit, ob auf dem Wochenmarkt oder in wenig besuchten Geschäften, Dinge von eben wenig betuchten Menschen, auch wenn er diese Dinge nicht brauchte. Und er hat meist mehr für sie bezahlt, als verlangt wurde. Manchmal war ich dabei, und ich war erstaunt über Vaters Verhalten. Eines Tages fragte ich ihn: "Warum tust du das, Vati?"
Ich weiß, dass die meisten der Leser und Leserinnen womöglich diese Botschaft und vor allem ihre Ausführung nicht teilen werden. Aber wenn Sie, verehrte Leserschaft, Menschen sind, die sich die Zeit genommen haben, diesen Text bis zu dieser Stelle zu lesen ... Dann wird diese Botschaft, eines Versuchs der Vermenschlichung unseres sozialen Umfeldes ... noch einen Schritt weiter gegangen sein .... in die richtige Richtung ...